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Die Linie von Santo Daime

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0          Inhalt: Titel                                                 

1          Fama Fraternitatis                                        

2          Meine Reise nach Mapiá                        

3          União do Vegetal                                  

4          Templo Judão-Christão-Islamico        

5          Die Bruderschaft von Santo Daime     

6          Meine Fahrt nach Céu do Mapiá           

7          Céu do Mapiá                                             

8          Meine erste Concentração                    

9          Meine erste Vision                                     

10       Die Tage danach                                        

11       Padrinho Sebastião                              

12       C. R. F                                                      

13       Meine erste Cura                                       

14       Die Elemente des Rituals                       

15       „Viva a Santa Alegría!“                            

15.1    Mein erstes Hino                                      

15.2    Die Wiederholung                                      

Ende                                                                                    

 

 

1. Fama Fraternitatis

 

Während ich dies schreibe, halte ich in meinen Händen ein nummeriertes Exemplar einer originalgetreu reproduzierten Fassung der „Fama Fraternitatis oder Entdeckung der Brüderschaft des Hochlöblichen Ordens des R. C. ... An die Häupter, Stände und Gelehrten Europae.“ –

 

Die Veröffentlichung dieser mit Titelblatt 16-seitigen Schrift im Jahre 1615 „in fünf Sprachen ausgesandt“, führte der Gesellschaft Europas vor Augen, dass sich in ihrer Mitte eine Bruderschaft befand, die offenbar ‚sehr’ lange schon reiches Wissen besaß und es auch anwenden konnte, die aber trotzdem - oder auch gerade deswegen - trotz der Veröffentlichung weiter unbekannt und unerkannt blieb. Die Schrift war zu fundiert, als dass sie ein Scherz hätte sein können. Den Orden oder diese Bruderschaft musste es also tatsächlich geben. Viele Stellen der Schrift waren nicht enträtselbar verschlüsselt, als wäre es eine Schrift nur für ihre Mitglieder, - die aber trotzdem allgemein zugänglich gemacht wurde. - Warum? – Was steckte alles dahinter? – Wie war das möglich im total kontrollierten Europa, in dem seit vielen Jahrhunderten alle Andersgläubigen, alle ‚Ketzer’ ausgerottet wurden? –

 

Die Geheimnisse der ’Fama’ bestehen bis heute fort. [1]

 

Auf Seite zwei der ‚Fama’ erfährt der Leser nach der Einleitung und zu Beginn der Beschreibung der Reise von ‚C.R.’ in einem sehr langen Satz: „Um solchen Intent einer General-Reformation hat sich auch hoch und lange Zeit bemüht der hocherleuchtete Vater Frater C.R., ein Deutscher, unserer Bruderschaft Leiter und Begründer ...“

 

Die Absicht, eine allgemeine Reformation (Re-formatio, lateinisch, Rück-Formung) oder Umformung zum Besseren der Gesellschaft herbeizuführen, ist wohl einer der Hauptgründe für diese ungewöhnliche Veröffentlichung. Und diese Umformung sollte demnach ausgehen von den Oberhäuptern, den Ständen und den Gelehrten Europas. Die Veröffentlichung dieser Schrift war ein erster Schritt, um diese Umformung unter den Augen der Öffentlichkeit herbeizuführen.

 

Mit einer allgemeinen Reformation ist also nicht die spezielle Kirchenreformation gemeint, die durch Luther zur Spaltung der Kirchenorganisation und dann durch die reaktionäre katholische Gegenreformation zum 30-jährigen Krieg führte.

 

Eine allgemeine Reformation, die diesen Namen wirklich verdient, hat es bisher noch nicht gegeben. Das Zeitalter der Aufklärung erwuchs zwar aus dieser und anderen damit zusammenhängenden Publikationen. Es brachte den Menschen zwar die Demokratie und das Erwachen des Bewusstseins für die Menschenrechte, aber keine allgemeine Reformation. Auch zu Anfang des 21. Jahrhunderts leben wir in einer Gesellschaft, deren Regeln für das Zusammenleben weitgehend willkürlich, historisch gewachsen und uneffektiv sind.

 

Wir sehen deutlicher als früher die Grenzen des Wachstums der Moral dieser Gesellschaft. Und wir sehen überdeutlich, dass unsere Parteien-‚Demo’-Kratie tatsächlich nicht über klitzekleine Reförmchen hinauskommt (Demos, griechisch, Volk, Alle; kratein, griechisch, herrschen; Demokratie ist also die Herrschaft Aller). Dadurch ist sie letztlich entwicklungsunfähig geworden und deshalb zum Untergang ver-dammt. Denn sie kann sich nicht mehr anpassen an Umstände, die sich schnell verändern. Und die Geschwindigkeit der Veränderung nimmt auf allen Gebieten im Mittel exponentiell zu.

 

Die wirkliche General-Reformation steht Europa und der Menschheit – seit jetzt beinahe 400 Jahren - immer noch bevor, obwohl ihr Fundament damals schon bereitet wurde dadurch, dass sie öffentlich angekündigt wurde. Jeder, der dieser Schrift vertraut, weiß also, dass sie geschehen wird. Und um über diese bevorstehende General-Reformation Näheres berichten zu können, möchte ich etwas weiter ausholen.

 

Ich berichte, wie ich eine mir unbekannte Bruderschaft entdeckte und wie diese Entdeckung mich dazu führte, dass ich Näheres über diese uns allen bevorstehende Gesamt-Umformung der Gesellschaftsstrukturen berichten kann. Ich wende mich dabei nicht mehr „an die Häupter, Stände und Gelehrten Europae“, denn auch sie sind reformunfähig geblieben. – Sondern ich wende mich ganz direkt an die Krieger dieser Erde, ganz speziell an diesen einen, der dieses jetzt liest. Er kommuniziert jetzt direkt mit einem anderen Krieger, dem, der diesen Text schrieb.

 

Denn ein Krieger ist ein Mensch, der in seinem eigenen Leben eine General-Reformation durchführt, um zu freieren Lebensbedingungen zu gelangen. Sie besteht darin, makellos zu handeln, keine Energie zu vergeuden, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln und dadurch die begrenzte Zeit des Lebens optimiert zu nutzen, um die für die Befreiung notwendigen Erfahrungen zu sammeln und um dadurch die Tugenden in sich reifen zu lassen. Freiere Lebensbedingungen fördern im Leben der Menschen die Zunahme persönlicher Fähigkeiten.

 

Die persönliche General-Reformation ist die Grundlage einer General-Reformation der Gesellschaft – und nicht etwa umgekehrt. Und genau aus diesem Grunde bist du derjenige, der mit seiner Initiative die Anfänge dieser General-Reformation mitgestaltet.

Hier folgt also – so kurz wie mir möglich – meine Erzählung dessen, was ich erlebte.

 

 

2.  Meine Reise nach Mapiá

 

Am Vollmondstag im Mai 1995 erhielt ich einen Telefonanruf, ob ich an einem Auftrag im Amazonas-Urwald in Brasilien für etwa drei Monate interessiert sei. Ich sagte zu.

Ein Freund, der für gewöhnlich gut informiert ist, sagte mir: „Wenn du in Brasilien bist, dann musst du unbedingt auch nach Mapiá. Dort lebt eine Gemeinschaft, die arbeitet mit Ayahuasca.“

 

An Ayahuasca hatte ich Interesse, denn seit Jahren reden Menschen, die seine Wirkung kennen gelernt haben, davon, als sei es die Substanz, die mächtiger als alle anderen sei, als sei es die Substanz des neuen Milleniums.

 

Durch die Vermittlung meines Freundes sprach ich mit zwei Menschen, Stefan und Rita, einem Lehrerehepaar, die an einer einmaligen Sitzung dieser Gemeinschaft in Hamburg teilgenommen hatten. Sie beide erzählten mir, wie großartig dieses Erlebnis gewesen wäre und dass es ihre Leben verändert hätte.

 

Auf einer großen Landkarte von Brasilien suchte ich lange nach diesem Ort, bis ich ‚Mapiá’ im Nordwesten Brasiliens im Dschungel gefunden hatte. Der Akzent über dem ‚a’ zeigt an, dass dieses ‚á’ die betonte Silbe des Wortes ist, im Gegensatz zur Normalbetonung von Wörtern nicht auf der letzten Silbe. Das weist darauf hin, dass Mapiá ein Name aus alter Zeit vor der portugiesischen Conquista ist. Ich ließ mir eine Fotokopie dieses Ausschnitts der Karte machen und nahm mir vor, den Ort zu besuchen, allgemeiner, Ayahuasca kennen zu lernen.

 

 

3.  União do Vegetal

 

Von Manaus aus, zentral am Strom Amazonas gelegen, wird der Amazonas-Urwald hauptsächlich ausgebeutet. Von dieser Zwei-Millionen-Stadt aus sollten wir weiter fliegen mit Privatflugzeugen etwa 2 mal 45 Minuten bis zu einem Goldgräbercamp.

 

Sieben Tage, nachdem ich in Manaus angekommen war, konnte ich an einer Sitzung mit Ayahuasca teilnehmen, die Menschen organisiert hatten, die ich gerade dort kennen gelernt hatte und denen ich erzählt hatte, dass ich an Ayahuasca Interesse hätte. Ich lieferte ihnen mit meiner Frage und Bitte das Omen, eine Sitzung durchzuführen.

 

Wir trafen uns abends zu Acht in einer Privatwohnung und befestigten mehrere Hängematten an den Wänden, so dass jeder gemütlich liegen konnte. Ein etwa 35-jähriger Schamane vom Oberlauf des Rio Negro leitete das Ritual. Ich kannte Spanisch von meiner letzten langen Südamerika-Reise, hatte aber gerade erst seit einer Woche begonnen, Portugiesisch zu lernen. Einige Teilnehmer sprachen Englisch. Mir gelang es recht gut, ‚Alles’ für mich Wichtige zu verstehen.

 

Ich bekam mit, dass der Schamane zu einer Gemeinschaft gehörte, die sich ‚União do Vegetal’ nannte und die es schon seit mehreren Jahrzehnten gab. Die ‚Vereinigung der Pflanzen’, der Liane Mariri und des Blätter-Strauchs Shacruna, ergab diesen Tee. Der Schamane füllte das Getränk in 8 Becher. Jeder nahm einen Becher in die Hand. Auf einem Teller lagen 8 Orangenscheiben. Wir tranken gleichzeitig das bittere Getränk schnell aus und aßen sofort eine Orangenscheibe hinterher, weil der Geschmack des Getränks übertönt werden sollte, so schlecht sollte es schmecken. – So bekam ich beim ersten Mal fast nichts von diesem eigenartigen Geschmack mit.

 

Die Sitzung war eine ‚Concentração’, eine ‚Konzentration’, was ich damals aber nicht wusste: Wir legten uns nach kurzer Zeit in die Hängematten und verharrten still in ihnen. Nach langer Zeit, etwa 35 Minuten nach der Einnahme, begann langsam die Wirkung dieser psychedelischen Substanz.

 

Ich gaffte an die Holzdecke des Zimmers, die vom Licht der Straßenlaternen dunkel beleuchtet wurde. Die Muster des Holzes begannen sich zu bewegen. In sanften Wellenbewegungen wiegten sie sich hin und her. Ich konzentrierte mich auf die Schönheit und Anmut dieser sanften Bewegung.

 

Die Farben des Holzes wurden kräftiger, intensiver, so wie sie im Normalbewusstsein nicht erscheinen können, wie lebendig, vibrierend, atmend – ausdrucksvoll - : Sie waren selbst mit Bewusstsein erfüllt, das erkannte ich jetzt, so dass ich mit ihnen in direkten Emotionsaustausch und Wissensaustausch eintreten konnte. In der tiefen Ruhe meines Bewusstseins konnte ich viele mich seit langer Zeit bewegende Fragen weiter ausführen. Ich konnte viele dunkle Facetten meines Charakters in ihrer Erbärmlichkeit betrachten, meine Abgrenzungen, mein Stirn-runzelndes Abwerten, meinen primitiven Hochmut, ... Ich hörte mein ‚Herz’ sprechen, wie es mir verstehend und milde meine Makelhaftigkeiten zeigte.

 

Das Denken war völlig klar. Meine Stimmung war ‚paradiesisch’, das heißt: eine geschlossene, harmonische, dichte Welt, in der ich eingesponnen war. Ich konnte mich auf die lieblichen Aspekte des Lebens ausrichten. Ich sah aber auch, wie die Evolution ein solches Leben erzeugen kann, in dem der Mensch zur Zeit in den Städten der Erde lebt. Und ich sah die Kürze und Vergänglichkeit unserer heutigen Lebensbedingungen, die im Normalbewusstsein ‚ewig’ erscheinen. Denn ihre Probleme scheinen keine Lösung, also keinen echten Fortschritt zuzulassen.

 

Die Kraft dieser Sanftheit des ewigen Schwingens der Existenz erfüllte mich mit Freude. Auch der entfernte, normalerweise ‚störende’ Lärm des Großstadtverkehrs war in die Harmonie mit einbezogen, eine liebliche, ruhig gleitende Symphonie der Geräusche.

 

Nach etwa einer Stunde sang der Schamane einige fremdartige ruhige Lieder, ‚Icaros’, deren Stimmung mich stark berührte: Eine andere, ferne Kultur berührte mich!

 

Danach gab es für den, der wollte, eine weitere Dosis Ayahuasca oder ‚União do Vegetal’, diesen magischen Tee.

Ich hatte genug. Mir wurde beim Aufstehen so schwindlig, dass mein Magen sich erbrach. Auch einige andere Teilnehmer übergaben sich von Zeit zu Zeit. Als ich von der Toilette zurück kam, auf der ich mich übergeben hatte, blickte ich in das Gesicht eines jungen brasilianischen Mädchens mit brauner Haut, zartgliedrig, zierlich schlank, einer Teilnehmerin dieses Rituals, und ich war von ihrer übergroßen Schönheit wie betäubt. Auch sie sah mich bewegungslos verklärt an, während ich mich an einen Türpfosten lehnte. Der Schamane sah, was mit uns los war und führte mich sanft, aber bestimmt zu meiner Hängematte: In einem Ritual ist kein Platz für so etwas.

 

Die Sitzung ging etwa fünf Stunden lang. Es tat gut, vollständig ruhig zu liegen. Es geschah für mich nichts wesentlich Neues mehr. Ich verweilte entspannt in der paradiesischen Stimmung und genoss das sanfte Weben meines Bewusstseins, hatte mehrere tiefe, intuitive Gedanken, machte mir aber klar, dass das für mich „viel zu wenig“ war. Ich wollte dichter an das direkte Erkennen heran.

 

Ich analysierte meine Bewusstseins-Position: Geweiteter Blick, langsamer fließende Zeit, geruhsam-euphorische Stimmung; einzelne Wahrnehmungs-Fasern sind wie pointillistische Punkte im fließenden Wellenmuster zu erkennen:

Ich konnte, so meinte ich zumindest, die einzelnen Augen-Blicke der optischen Nerven im Bewusstsein einen nach dem anderen erscheinen sehen, und wenn ich mich auf einen ‚Pixel’, einen optischen Nerv konzentrierte, dann konnte ich das Aufblitzen seiner Information von Augenblick zu Augenblick verfolgen wie ein schnelles Helligkeits-Vibrieren oder Funkeln.

 

Diese Bewusstseins-Quanten sind die Elemente, aus denen diese sanften Wellen bestehen, die zu Dingen der täglichen Welt erstarren können; ich habe starke Empfindungen an den Orten der Chakren (‚Stimme des Herzens’), das Erkennen hat aber noch nicht die gläserne leuchtende Klarheit von LSD. Das sinnliche Empfinden ist verstärkt, der Körper fühlt sich ‚von Bewusstsein durchtränkt’ an. Aber die Dinge waren für mich noch zu stark ‚montiert’, so dass es schwer war, eine Ursachen-Ebene tiefer vorzudringen.

 

Auf ‚so etwas’ konnte ich leicht verzichten. Trotz der Schönheit des Erlebnisses war Ayahuasca für mich eine leichte Enttäuschung. Rückblickend hätte ich die zweite Dosis nehmen sollen, aber ich hatte mich direkt davor übergeben, und ich kannte diesen Zustand noch zu wenig, so dass ich mich nicht traute. Ich war einfach unterdosiert.

 

Nach Abschluss des Rituals, nach dem Entlassen der Mächte aus diesem pflanzlichen Tempel, sagte Daniel, der Haupt-Organisator dieses Rituals noch einige wichtige Dinge zu mir, die ich aus meiner eigenen Praxis voll bestätigen konnte:

 

Denke häufig über die Dinge nach, die Du heute erlebt hast!

Nimm Deine Erkenntnisse mit in Dein tägliches Leben hinein, sonst war es vergebens, was Du heute erlebt hast!

Prüfe Deine Erkenntnisse durch Deine Handlungen, mache daraus Erfahrungen, bestätige und verfeinere sie, oder verwirf sie als Illusion!

Lebe nicht in zwei unterschiedlichen Welten, einer hier und einer anderen dort, lebe in einer Welt, die hier ist und die auch dort ist! Die Erkenntnisse gelten in dieser einen Welt. Oder sie sind Illusion. Lass Dein geläutertes Bewusstsein auch hier sein! Unser Bewusstsein ist ein Kontinuum: Lass es fort dauern!

 

Ich blieb über Nacht in der Hängematte und kehrte am nächsten Morgen zu meiner Wohnung zurück. Ich war den ganzen Tag zurückgezogen und schweigsam, und am folgenden Tag ging es für sechs Wochen zur Arbeit in das Goldgräbercamp mitten im Urwald.

 

 

4.  Templo Judão-Christão-Islamico

 

Während der insgesamt dreimonatigen Arbeit an dem Projekt schmiedete ich offene Pläne, was ich in der Zeit danach am Besten tun würde: Ich hatte ein Flugticket mit sechs Monaten Gültigkeit, einen Termin in Deutschland Mitte Dezember und wollte zwei Monate Amazonien bereisen: In Rio de Janeiro endete mein Vertrag. Von Rio de Janeiro nach Belém an der Mündung des Amazonas, dann den Rio Negro hinauf, dann an den südlichen Seitenarmen des Amazonas bis nach Mapiá, dort etwa eine Woche bleiben, mit dem Bus durch Brasilien nach Rio de Janeiro zurückfahren und von dort nach Europa zurückfliegen.

 

Aber die Omen, die ich sorgfältig beachte, wollten etwas anderes: Mein Vertrag endete nicht, wie ich vermutet hatte, in Rio de Janeiro, sondern 600 Kilometer weiter südlich, also weiter entfernt von Belém, in São Paulo. Ich fuhr deshalb zuerst mit dem Bus noch weiter nach Süden und war zwei Tage später in Iguazú, um mir die majestätischen Wasserfälle anzusehen. Ich war schon bei meiner ersten Brasilienreise 1981 für drei Tage dort gewesen. Ich hatte jeden Tag viele Stunden lang in den Regenbogen unten im Schaum des größten Teilwasserfalls, der Garganta del Diablo gegafft, während das immerwährende Rauschen des Wassers mit den Vibrationen des Felsgesteins mich aus der konkreten Welt entfernte. Ich war von der Macht der Natur und ihrer unnennbaren Schönheit tief berührt worden.

 

Bei meinem jetzigen Besuch regnete es und es war unangenehm kalt. Und die Aussichtsplattform an der Garganta del Diablo war wegen Reparaturarbeiten nach dem letzten zerstörerisch hohen Hochwasser gesperrt. Ich fuhr noch über den riesigen Itaipú-Staudamm bei Iguazú, der mehr Masse enthält als die Cheops-Pyramide, und beschloss dann, sofort nach Norden, in Richtung Äquator in die Wärme nach Amazonien aufzubrechen. Die Busverbindung nach Nord-Osten, zur Küste über Rio de Janeiro war ich gerade erst gekommen, ich wollte möglichst viel von Brasilien sehen, also fuhr ich weiter in Richtung Nord-West: Die Entscheidung war damit getroffen, zuerst nach Mapiá zu fahren, und von dort aus die geplante Reise umgekehrt über Belém nach Rio de Janeiro zu machen.

 

Die Busfahrt quer durch Brasilien dauerte mehrere Tage. In Cuiabá stieg ein interessanter Mensch ein, ein etwa zwei Meter großer Hippie, etwa 40 Jahre alt mit großem geflochtenem Sonnenhut, typischer Hippie-Kleidung, mit hellblauen Augen und relaxten Bewegungen. Wir hielten am späten Nachmittag in der Stadt mit dem Namen Porto Velho (‚Alter Hafen’) an. Beim Aussteigen sprach der Hippie mich auf Portugiesisch an. Wir wechselten nach kurzer Zeit ins Deutsche über, denn er war wie ich in Hamburg geboren. Er trug den Namen Joram. Ich besuchte ihn abends auf dem Marktplatz, wo er seinen selbst angefertigten Silberschmuck, seine Schnitzereien und seine kleinen Pfeifchen verkaufte. Er lebte lieber in Brasilien als in den anderen Ländern der Erde, weil hier die Menschen toleranter und freundlicher zu Hippies waren als überall woanders.

 

Als ich ihn am nächsten Nachmittag wieder sah, hatte er herausgefunden, dass abends ein Ayahuasca-Ritual in einer Seitenstraße in der Nähe stattfinden sollte. Wir badeten nachmittags in dem 31°C warmen Fluss Rio Madeira, der sehr wenig Wasser führte. Ich erfuhr, dass die Bootsverbindung vom Amazonas nach Mapiá abgebrochen war wegen des geringen Wasserstandes in dieser ganzen Region: Von Bélem aus hätte ich also gar nicht nach Mapiá kommen können. Der ursprünglich von mir geplante Reiseablauf war in diesem Jahr also unmöglich.

 

Abends im Hinterhof eines einstöckigen ärmlichen Hauses bot der etwa 30-jährige Gastgeber jedem, der daran teilnehmen wollte, kostenlos einen Becher Ayahuasca an. Er gab mir eine Visitenkarte, und so erfuhr ich, dass ich hier im ‚Templo Judao-Christão-Islamico’ (Jüdisch-christlich-islamischen Tempel) war, einer unabhängigen Organisation, die das ‚Huasca’, so nannte es sich hier, zur Eucharistie, zum Abendmahl als ‚Leib des Herrn’ ausschenkte.

 

So waren wir in der Nacht etwa 10 Leute, die meisten jung, einige Europäer. Eines der Mädchen war schwanger. Ich wusste bereits, dass Ayahuasca vollständig gefahrlos ist. Es kann jedoch bei Schwangeren Krämpfe auslösen. Deshalb bekommen Schwangere nur geringe Dosen, um keine Frühgeburt auszulösen. Bei der Geburt jedoch wird die volle Dosis gereicht: Es soll die Geburt zu einem schmerzlosen, leichten, freudigen und transzendentalen Ereignis machen, so dass im Normalfall keine der in unserer Zivilisation ‚normalen’ Komplikationen geschehen. Zum Beispiel für diese Dinge wird es seit Jahrhunderten von den Urwaldschamanen benutzt. Genau so ist es gefahrlos für Kinder...

 

Es ging hier zwanglos zu, ohne Ritual. Wer wollte, unterhielt sich, wer wollte, schwieg. Die Stimmung von Allen war gesammelt, ruhig und ausgeglichen. Es wurde wenig gesprochen, und wenn, dann war es ein offenes Zweier-Gespräch mit leiser Stimme. Der Gastgeber spielte abendländische klassische Musik, die großen Sinfonien, etc. Ich merkte, dass mein Erlebnis wesentlich anders war als beim ersten Mal: Ich wurde direkt mit meinen Unvollkommenheiten konfrontiert, mit meinen halbherzigen Handlungen, mit den Entscheidungen, zu denen ich nicht stehe.

 

Ich ging tief hinein in diese Konfrontation. Ich kniete mich auf den Gebetsteppich in seinem Zimmer neben der Stereo-Anlage, die Unterschenkel und Unterarme auf dem Boden, legte den Kopf in die Flächen meiner Hände und verbrachte lange Zeit in der Rückerinnerung. Meine Erinnerungen wurden auch durch die herrliche Musik ausgelöst. Ich merkte, dass das Ayahuasca mich reinigte: Die Bewusstwerdung der Erlebnisse kräftigte in mir die Bereitschaft, mich zu verändern. Ich bemerkte diese Bereitschaft mit dem ganzen Körper als eine Art von Vitalität, als eine Art von schnellem Vibrieren in all meinen Körperzellen - eigenartig... Nach etwa 90 Minuten ging ich wieder nach draußen zu den Anderen.

 

Kurz vor Schluss sprach ich noch mit dem schwangeren Mädchen, das aus Argentinien bis hier gekommen war, um dieses Erlebnis vor ihrer Geburt zu haben, damit sie ihr zukünftiges Kind besser behandeln könne. Ich legte mein Ohr an ihren Bauch und fühlte, wie ihr Kind in ihrem Bauch diesen Zustand genoss.

 

Nach etwa 5 Stunden in dieser Privatkirche des Gastgebers, sagte er, dass er müde wurde, und wir gingen dann auseinander.

 

Mit Joram und einem seiner Freunde gingen wir noch zum Fluss und rauchten ein wenig aus seiner Pfeife. Ich war richtig erstaunt, wie gut sich die Wirkung von Ayahuasca, die immer noch mittelstark zu spüren war, mit der von Hanf ergänzt und gegenseitig verstärkt. Wir ließen die Stille der Tropennacht auf uns wirken.

 

Joram riet mir, möglichst bald weiter zu fahren über Rio Branco und Boca do Acre nach Mapiá, denn dort sei mehr zu lernen als hier. Dort sei das Zentrum der Ayahuasca-Kultur. Er wollte auch nach Rio Branco. Mein Interesse an Ayahuasca bewog ihn, wieder zur ‚Colônia 5000’ (gesprochen ‚Colônia Cinco Mil’), einer Siedlung in der Nähe von Rio Branco zu fahren, wo er schon einmal vor mehreren Jahren gewesen war. Dort hatte er Ayahuasca kennen gelernt. Er gab mir einige Informationen und Namen, an die ich mich wenden sollte.

 

Ich übernachtete neben ihm in einem kleinen Park in der Nähe des Flusses auf der Pappe eines Kartons, die mir zwei Polizisten gegeben hatten, die dort Streife hatten. Sie bewachten uns Hippies vor den Junkies. Die überfallen seit kurzem immer häufiger die Menschen, die nachts noch auf den einsamen Straßen waren, um an das Geld zu kommen, das sie für ihre Droge (Coca-Base) brauchten, die durch Illegalität überteuert war.

 

Ich guckte mir die Schlafstellung von Joram ab und übernahm von ihm die Stellung der Hände und Arme als eine für mich neue Möglichkeit.

 

  Er schlief auf der rechten Seite, den linken Unterschenkel auf rechte Wade und Fuß gebettet, die Handrücken beider Fäuste am Nacken aufliegend.

 

Er war der ausgebildete Fachmann für das Übernachten unter irgendwelchen Bedingungen. Einige Straßenhunde hatten sich um uns friedliche Menschen zusammengefunden und bewachten uns zusätzlich. So ruhte ich in aller Gemütlichkeit und Geborgenheit in der warmen und windstillen Tropennacht und dachte über mein Leben als Hippie nach, das ich bis jetzt versäumt hatte zu leben.

 

Jahre später erfuhr ich, dass die Bewegung ‚União do Vegetal’ hier in Porto Velho begonnen hatte:

‘UDV as it is known today however was "re-created" on July 22 1961 in Porto Velho , Rondônia , Brazil by the rubber-tapper José Gabriel da Costa (now known as Mestre Gabriel).’ [>http://en.wikipedia.org/wiki/Uniao_do_Vegetal]

 

 

5.  Die Bruderschaft von Santo Daime

 

Dann ging meine Reise zügig weiter nach Rio Branco, der Hauptstadt des Distrikts Acre, in der die Ayahuasca-Bewegung in diesem Jahrhundert begonnen hatte. Ich kam spät nachmittags an und stellte meinen Rucksack in einem Hotel ab. Ich wollte mit dem Bus zur ‚Colônia 5000’ fahren, landete aber wegen meines schlechten Portugiesisch nur vor einer griechisch-orthodoxen Gemeinschaft, die gerade ihre dreiwöchige(!) Schweigezeit mit täglicher Ayahuasca-Einnahme beendet hatte. Zur Zeit sei Pause, sagte der Abt zu mir. Ich sah dort viele interessante Menschen mit edlen Gesichtern, ging aber weiter, um weiter zu suchen.

 

An der Endstation der Buslinie kam ich ins Gespräch mit dem Busschaffner. Die ‚Colônia 5000’ kannte er nicht. Er empfahl mich seinem Kollegen, der dort wohnte, der bei einer anderen Ayahuasca-Gemeinde war und der mich gleich zu seiner Gemeinde ‚Barquinha’ (‚Die kleine Barke’) mitnahm und mich als Deutschen dort mit einer deutschen Frau bekannt machte, die dort lebte. Mit ihr verbrachte ich den nächsten Tag im Gespräch und im Gebet und erfuhr, dass sie gerade ein Buch über ihre Erlebnisse veröffentlichen wollte.

(Ruth Fischer-Fackelmann: Fliegender Pfeil, Wilhelm Heyne Verlag, Nr. 9684, ISBN 3-453-11471-X, 1996, 251 S.)

 

Ich sprach kurz mit ihrer Mutter Oberin, einer alten, weisen Frau voller Sanftheit und Güte. Aber auch dort fanden zur Zeit keine Ayahuasca-Rituale statt.

 

Das nicht Finden der Colônia 5000 und die zwei Gemeinschaften ohne Rituale nahm ich als Omen, um am nächsten Tag weiter zu fahren nach ‚Boca do Acre’, dem kleineren Ort an der ‚Mündung des Acre’-Flusses in den Rio Purus, von dem aus die Kanus abfahren sollten in Richtung Mapiá. Ich besuchte dort ‚den Italiener’, dessen Adresse mir Joram gegeben hatte. Er war ein ‚Daimista’, und von ihm erfuhr ich etwas mehr Einzelheiten über ‚Céu do Mapiá’, wie Mapiá richtig und vollständig heißt: ‚Der Himmel von Mapiá’. Mapiá ist ein Wort aus einer Indianersprache, deswegen wird es auf der letzten Silbe betont. Mapiá heißt der Fluss, an dem der Ort liegt.

 

Zwei Tage später traf ich bei ihm auf Joram, der ihn besuchte. Abends machte der Italiener für uns beide eine ‚Concentração’ mit dem ‚Daime’, das er aus Mapiá hatte.

 

„Santo Daime“ ist der Name von Ayahuasca, der in Mapiá verwendet wird. Er heißt auf Brasilianisch „Gib mir das Heilige!“ Daimistas sind diejenigen, die Daime trinken. Der Italiener erzählte uns von der „Bruderschaft von Santo Daime“, der alle diejenigen angehören, die das Daime als ihren Weg erkannt haben, unabhängig davon, zu welcher Organisation sie gehören. Sie alle verbindet ein brüderliches Band – ohne eine Organisation. Als ich das von ihm hörte, merkte ich, dass auch ich mich vielleicht schon in diese Bruderschaft aufgenommen hatte, aber ich hatte trotzdem noch meine Bedenken über die Kraft des Ayahuasca.

 

Er sprach über den Padrinho Sebastião, Väterchen Sebastian, der Céu do Mapiá im Alter von 65 Jahren mitten im Dschungel gegründet hatte, um dem Treiben der Zivilisation entgehen zu können. Im Dschungel unter Schwärmen von Moskitos mit der Kraft der eigenen Hände, mit Äxten und Werkzeugen ohne Geldmittel ein funktionierendes Dorf zu gründen: Was für eine extreme Strapaze! Was für eine Willenskraft! Jahre ihres Lebens hatten er und seine etwa 50 Weggefährten unter den allergrößten Strapazen dafür gegeben, um nicht mehr unter uns zivilisierten Menschen weilen zu müssen. Das schien mir beinahe grotesk!

 

Der Italiener hatte in seiner Plantage, weit ab vom Treiben des Dorfes, ein schönes, kleines Haus errichtet, das für die Einnahme von Daime bestimmt war. Wir sprachen ein Gebet, tranken sein Daime und begaben uns in eine vielleicht zweistündige Meditation ohne irgendein besonderes Ritual. Als Joram und ich das Bedürfnis hatten, miteinander zu sprechen, um uns über unsere Erlebnisse auszutauschen, beendete der Italiener die Concentração mit einem Schlussgebet. Ich hatte eine richtig tiefe Meditation erlebt, in der ich so viele neue Gedanken bewegt hatte, wie noch selten in meinem Leben. Wunderbar! – Das war richtig gut! – Das war reich und voll! – So eine herrliche Substanz! - Daime zeigte mir seine Kraft, die Meditation zu beschleunigen und zu vertiefen.

Waren das Alles die gleichen Getränke? - War ihre Zusammensetzung wirklich gleich? – Drei so unterschiedliche Erlebnisse durch die gleiche Substanz? - Welche Möglichkeiten mochten noch in ihr stecken?

 

 

6.  Meine Fahrt nach Céu do Mapiá

 

Am übernächsten Morgen bei Sonnenaufgang hatte ich einen Platz in einem Canoa erhalten, das nach Céu do Mapiá abfuhr. Canoas heißen Einbaum-Boote mit einem Außenbordmotor und flachem Tiefgang, die etwa 8 Personen mit Gepäck transportieren können.

 

Bei der Abfahrt traf ich auf ‚Lucio Mortimer’, der am Bootssteg war. Als ich ihm erzählte, dass ich Deutscher sei, erzählte er mir, dass er gerade aus Deutschland zurückgekommen sei. Ich nahm es nur zur Kenntnis. Er hatte mit seiner Deutschlandreise unter anderem auch die Hamburger Gruppe geschaffen, die seitdem in Hamburg arbeitet und in der ich gleich nach meiner Rückkehr weiter mit Santo Daime arbeiten konnte.

 

Die Fahrt ging einen ganzen Tag lang den Rio Purus hinunter, einen breiten Strom, der einer der Nebenflüsse des Amazonas ist, breiter als der Rhein oder die Elbe. Ab und zu begleiteten uns einige Süßwasser-Delphine. Der Fluss mäanderte und riss an der Außenkrümmung seine Ufer in den Strom hinein, während er an der Innenkrümmung flache Sandstrände anschwemmte. An diesen Sandstränden wurden Nutzbäume neu angepflanzt, an den Steilhängen dagegen standen die alten Urwaldbäume, die beim nächsten Hochwasser in die Fluten gerissen werden würden. So weicht der Urwald der Zivilisation auf langsame Weise.

 

Den ganzen Tag schien die Sonne ohne Schatten hoch vom Himmel. Ich strich Gesicht und Arme mit Sonnenschutzcreme ein, obwohl ich schon drei Monate in Brasilien lebte. Ich rollte ein T-Shirt vom Halsausschnitt bis zu den Armen als Rolle ein, legte mir den Rest des T-Shirts über den Kopf und knotete die Rolle hinten zusammen. Der Unterteil des Shirts bedeckte meinen Hals. So kam ich mit nur leichter Hautrötung davon.

 

Der Lärm des Außenbordmotors ohne Schalldämpfer – andere gibt es hier am Rande der Zivilisation nicht – war gewaltig. Ich trug die ganze Fahrt über Ohrstöpsel zur Schalldämmung.

 

Abends bog das Kanu in ein schmales Nebenflüsschen ein, in den Rio do Mapiá. Die Fahrt wurde schwieriger, denn auch hier war der Wasserstand sehr niedrig. Bei dem Rio Purus hatte ich von dem niedrigen Wasser fast nichts bemerkt, außer dass Boca do Acres Uferböschungen über 15 Meter über dem jetzigen Wasserstand ihre Wasserspuren hatten.

 

Bald legte das Kanu bei einer einsamen Hacienda (spanisch, Farm) an, einer ‚Fazenda’ auf Brasilianisch, einem kleinen handgezimmerten Haus auf Pfählen gegründet, bewohnt von einer armen indianischen Familie, die etwas Geld damit verdiente, dass der Kanu-Besitzer seine Gäste hier übernachten ließ. Eine kleine gerodete Lichtung war mit verschiedenen Nutzpflanzen zum eigenen Verzehr bebaut. Wir Reisenden aßen ein kleines warmes Mahl und legten uns in unsere Hängematten oder auf unsere Matten auf den Boden des Hauses.

 

An der Wand der Hütte hing das Bild eines älteren Mannes mit weißem Bart und strahlend, durchdringendem Blick. Ich wusste noch nicht, dass das Padrinho Sebastião war.

 

Am nächsten Morgen ging nach einem kurzen Frühstück die Fahrt weiter. Sie wurde für mich zu einer Initiationsreise. Wir waren jetzt nicht mehr in der Zivilisation, wir waren mitten im unberührten Urwald. Wir waren eingeschlossen in die verwunschene Heimat unserer Mutter Natur. ‚Floresta virgem’ heißt der Urwald auf Portugiesisch, ‚Blütenwesen Jungfrau’ wörtlich-frei übersetzt, der ‚jungfräuliche Wald’ oder ‚Urwald’ normal übersetzt.

 

Die Pracht, mit der sie uns empfing, überwältigte mich: Diese herrlichen Bäume in ihrer erhabenen Form und für mich unmessbaren Höhe. Es gab nichts Bekanntes, dessen Größe ich kannte, so dass ich keine Möglichkeiten hatte, ihre Größe auch nur abzuschätzen. Die Harmonie, in der alles miteinander wuchs und gedieh, diese Einheit des Lebens, so wie es sich seit Äonen hier entwickelte: Eine „über“-irdische Schönheit enthüllte sich mir. Was für ein Frevel, den die verblendeten Menschen in ihrer verwirrten Gier in diesem Amazonien anrichten, indem sie diese lebenden, harmonisch gewachsenen Räume einfach abbrennen und im wahrsten Sinne des Wortes ver-wüsten!

 

Padrinho Sebastiãos Flucht vor unserer Zivilisation wurde plötzlich für mich verständlich: In dieser harmonischen Umgebung kann das Herz aufblühen, kann die Seele erwachen.

 

Diese verwirrten Geister, die unsere Mutter deswegen brauchen, um sie zu töten und auszubeuten, um ihren ermordeten Leichnam auszuschlachten und kannibalisch aufzufressen – diese Geister werden in unserer Zivilisation zum Kannibalismus ausgebildet, sie sind die Boten einer lebensfeindlichen Spezies. Und unsere Zivilisation gibt ihnen die perfekten, machtvollen Mittel in die Hand, so dass ihre Ausbeutung auch effektiv erfolgt. Ich dachte an den Berg von Haaren im Vernichtungslager Auschwitz, der einem den Atem stocken lässt und die Kehle zuschnürt...

 

Wir alle werden durch unsere Zivilisation dazu erzogen, uns nach den ‚Erfordernissen des Marktes’ zu verhalten. Unser Überleben in unserer ‚Kultur’ hängt davon ab, dass wir die Stimme unseres Gewissens zum Schweigen bringen und alles tun, was uns irgendwie Geld bringt. Je mehr wir gegen unser Gewissen handeln, um so größer ist unser gesellschaftlicher Erfolg.

 

Was für eine unmenschliche Situation, in der wir leben, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Wir werden zu blutrünstigen, alles vernichtenden Raubtieren ausgebildet. Wie konnten wir ‚Menschen’ uns nur so weit erniedrigen lassen? Wie konnten wir uns nur so weit von uns selbst entfremden, dass es in unserer Zivilisation schon fast kriminell ist, bei diesem Mordritual nicht mitzumachen? Auf jeden Fall ist es dumm, um nicht zu sagen verrückt, nicht am Abschlachten unserer Mutter Natur mitverdienen zu wollen. ‚Das Geschäft brummt’.

 

Mit dieser Fahrt, etwa 6 Stunden lang ein schmales Flüsschen herauf hin zu seinem Dorf, lehrte mich Padrinho Sebastião viel über unsere Zivilisation und ihre wirkliche Einbindung in unsere Mutter Natur.

 

Mir wurde auch klar, welche Funktion diese Moskitos und Krokodile und Piranhas und die vielen anderen Quälgeister im Dschungel haben und warum der Dschungel von den Ausbeutern auch die grüne Hölle genannt wird...

 

Ab und zu flogen große, blau blitzende Schmetterlinge den Fluss entlang an uns vorbei. Ihre glitzernden Flügel blitzten bei jedem Flügelschlag einmal auf, wenn ihr Glanzwinkel in mein Auge reflektierte. Welch eine wunderbare Form der Kommunikation dieser Wesen: Sie erkennen sich über Hunderte von Metern Entfernung im dunklen Dschungel an diesem periodischen blauen Blitzen.

 

Es gab viele flache Stellen, an denen wir alle aussteigen mussten und das Kanu mit anfassen mussten, damit es nach einer Sandbank weiterfahren konnte. Oder ein Baumstamm, der in den Fluss gestürzt war, musste in der Krone durchquert werden oder sein Stamm musste überwunden werden. Für mich war das alles ein richtiges Abenteuer.

 

Selten, alle halbe Stunde etwa, kamen wir an einsamen Fazendas vorbei, einfachsten Bauernhöfen auf gerodeten Urwaldlichtungen errichtet. Nachmittags weitete sich plötzlich der Blick: Die Ufer waren gerodet, einige Häuser standen links und rechts des Baches, eine Hängebrücke überspannte den Bach, der sich hinter der Brücke gabelte zu zwei wesentlich flacheren Quellbächen, so dass ab hier flussaufwärts keine Schifffahrt mehr möglich war. Hier am Ende des Verkehrsweges hatte Padrinho Sebastião „seinen“ Platz gefunden.

 

Es geht schneller, von irgendeinem Ort der Erde bis nach Boca do Acre zu kommen, als von Boca do Acre bis hier. Céu do Mapiá liegt also tatsächlich „weit“ weg von unserer Zivilisation. In gerader Luftlinie sind es allerdings nur etwa 80 km bis Boca do Acre.

 

 

7.  Céu do Mapiá

 

Ich ließ mich am Donnerstag, dem 12. Oktober 1995 in der Recepção registrieren und wünschte mir, im Hause von Dario zu übernachten. Dario war der Name, den der Italiener mir genannt hatte, als ein Mensch, von dem ich einiges lernen könnte. Dario gestattete mir, meine Hängematte in seiner Veranda zwischen zwei Pfählen aufzuhängen und im Heim seiner Familie mein Heim zu finden.

 

Ich schaute mich im Dorf um. Es bestand aus etwa 50 Häusern im eigentlichen Dorf und aus weiteren etwa 50 Häusern weiter verstreut im Urwald errichtet. Jedes Haus beherbergte eine Familie, einige größere waren für Gruppen erbaut worden. Insgesamt lebten etwa 300 Einwohner hier. Es gab ein Verwaltungshaus, eine aus sechseckigen Räumen konstruierte Schule, ein ‚Sternhaus’ für geistige Arbeiten und die große Kirche. Sie war auf einem Hügel am Fluss errichtet, ein sehr großes Holzgebäude in Sternform.

 

Was für ein gewaltiger Raum! Welch eine unermessliche Meisterleistung, ihn mit den hier vorhandenen Mitteln zu bauen! Und doch, wie heimelig er wirkte! - Als ich eintrat, fühlte ich mich sofort wie zu Hause. Ich war von der Schlichtheit, Zweckmäßigkeit, Größe und Eleganz berührt und verstand die Symbolik fast jedes Details. Ein mächtiges Kantholz aus einem Urwaldriesen gehauen von etwa 20x20 cm Kantenlänge und etwa 15 bis 20 Metern Höhe im Zentrum des Raums trug das Strohdach.

 

Um diese ‚Achse der Welt’ war unten ein Tisch von etwa 2 Metern Durchmesser in der Form eines Sechssterns, jener zwei gleichseitigen Dreiecke, die sich gegenseitig durchdringen und vereinen. Sie beide bilden in dieser Form den Davidstern und auch die zwei ‚Schlüssel Salomonis’, die in der christlichen Tradition zu den zwei Himmelsschlüsseln von Petrus wurden. Und senkrecht in den zwei horizontalen Himmelsschlüsseln ruhte die Achse der Welt.

 

Der ganze übrige Raum war frei und hatte die gleiche Form eines Sechssterns: Im Innern entstand dadurch ein Raum in der Form eines gleichseitigen Sechsecks. An jeder der sechs Seiten war er offen und strahlte aus in ein kleineres gleichseitiges Dreieck hinein. Der Tempel hatte also 12 Seiten! Jedes der 6 äußeren Dreiecke von je 14 Metern Seitenlänge trug mit kleineren Pfosten die Außenseiten des Dachs. Die Außenwände hatten in Bauchhöhe eine Brüstung, die nach unten verkleidet war und die nach oben offen war.

 

So konnte ich vom Innern nach allen Seiten hin überall in die Natur schauen. Fensterscheiben sind in diesem Klima unnötig. Ein schwacher Wind fächelt frische Luft zu.

 

Das innere Sechseck ist der Festraum, zwei gegenüberliegende Dreiecke sind die zwei Eingänge. Zwischen den Eingängen ist die eine Seite die ‚Männerseite’ und die andere die ‚Frauenseite’. Die anderen je zwei Dreiecke jeder Seite sind vorgesehen, um die persönlichen Gegenstände ablegen zu können, damit die Babys dort während der Rituale schlafen können, damit die Schwachen, die ihre persönlichen Dinge zu bearbeiten haben, dort ihre Ruhe finden können, damit diejenigen, die sich übergeben müssen, sich dort über die Brüstung hinweg in die Natur erbrechen können.

 

Auf dem Fußboden waren Einzeichnungen, die die sechs Segmente, die vom Zentrum ausgingen, strukturierten: Jeder Platz für einen Teilnehmer war etwa 60 cm breit und etwa 50 cm tief. Die Kirche bietet Platz für etwa 800 Teilnehmer.

 

Von diesem ‚Tempel’ aus (templare, lateinisch, betrachten) konnte ich weit über die Landschaft schauen, in der Céu do Mapiá liegt: In der Mitte der Bach, zu beiden Seiten auf mehreren Hügeln die einzelnen Häuser, alles eingebettet in die üppig grünende Natur.

 

Ein Detail verstand ich aber nicht genau: Auf dem Sechsecktisch stand ein Kreuz mit zwei Querbalken, einem kleineren oberen und einem größeren unteren. Dieses Kreuz sah aus wie ein Mensch mit weit ausgestreckten Armen und weit ausgespreizten Beinen voller Kraft und Stärke.

 

Die Wirkung dieses Symbols auf mich war völlig anders, als ich es bisher von Kreuzen kannte. Dieses Kreuz strahlte grenzenlose Kraft und zugleich jubelnde Lebensfreude aus. Was für ein Unterschied zu den normalen kirchlichen Kreuzen der Christen! Aber von diesem Kreuz ging noch ein weiterer Zauber aus. Je länger ich es ansah, um so mehr begriff ich, wie dieses Kreuz in den Daime-Ritualen zu einem Brennpunkt von Bewusstsein wurde. Dieses Symbol war ‚aufgeladen’. Es ‚strahlte’ mich an.

 

In die zweiflügelige massive riesige Holztür waren Schnitzereien eingelassen: Sonne, Mondsichel, Stern, Adler und Kolibri, Liane und Blattpflanze des Daime.

Alle Details dieses Raums waren ‚makellos’ gearbeitet. Die Dinge strahlten Reinheit und Schönheit aus.

 

Mit ‚Professora’ Rita, der Lehrerin für die Kinder des Dorfes, verstand ich mich gut. Sie lebte in dem Haus, in dem Padrinho Sebastião wohnte, als er begann, Mapiá aufzubauen. Bei einem Kaffee beantwortete sie mir alle Fragen: Dieses Kreuz heißt das ‚Kreuz von Caravaca’ und der kleinere Querbalken bedeutet die damalige Zeit von Jesus auf der Erde mit seinem Kreuztod. Der größere Querarm bedeutet die jetzige Wiederkehr von Jesus Christus, die wesentlich machtvoller ist. – ‚Aha!’, dachte ich.

 

Der Kolibri ist der Geist Gottes, der alle Lebewesen küsst, ihren geistigen Honig trinkt und alles befruchtet und belebt. Der Kolibri ist das Zeichen der Neuen Ära der Wiederkehr von Jesus Christus, wenn der Geist für jeden wahrnehmbar ist. Der Kolibri heißt auf Portugiesisch ‚Beija-Flor’, also ‚Blüten-Küsser’, was für ein treffender Name. Und welch ein wunderbares Symbol für den Heiligen Geist!

 

Die Mondsichel ist ein Symbol des Islam. Sie bedeutet den menschlichen Verstand, der von der Sonne des Seins immer unterschiedlich beschienen wird und der daraus seine eigene Oberfläche formt, sein Weltbild, seine Realität, in der der Mensch von Geburt bis zum Tode eingeschlossen bleibt und dort seine Erfahrungen sammelt.

 

Der Adler ist das der Menschheit eigene uralte Symbol des einen Schöpfergottes ohne ein Antlitz, von dem du dir kein Bild machen sollst, denn Er ist unerkennbar, der mit seinen Schwingen, den Schwingen des Geistes, den Kosmos erhält und belebt.

 

Auch hier gab es zur Zeit kein Daime-Ritual, erst am 15. findet, wie an jedem 15. und 30. Tag jedes Monats, eine Concentração statt. Als ich erzählte, dass ich etwa 10 Tage auf meiner Reise für Mapiá eingeplant hatte, schaute Rita mich merkwürdig an. Auch als ich erzählte, dass ich noch nichts über ‚Santo Daime’ wusste und dass ich hergefahren war, um es kennen zu lernen, schaute sie verblüfft.

 

Mir war es immer noch nicht klar geworden, dass dieses eine heilige Stadt ist, wie etwa Lhasa in Tibet oder Mekka in Saudi-Arabien oder der Vatikan in Rom. Und ich war durch Zufall hier hereingeschneit. Und ich war der Einzige, der hier von nichts eine Ahnung hatte. Vielleicht war ich sogar der erste Besucher überhaupt, der einfach nur so auf eine Empfehlung hin hierher kam...

 

Ich erfuhr, dass man hier im Urwald zu den Ritualen ein weißes Hemd mit langen Ärmeln und blauem Schlips trägt und eine elegante marineblaue Hose mit Bügelfalte. Das ist die Kleidung der ‚Fardados’, der ‚Uniformierten’. Anfänger tragen weiße Kleidung. Aber Anfänger gab es hier nicht… Darauf hatte ich mich als Backpacker nicht vorbereitet. Ich musste mir die Kleidung von Dario ausborgen. Ich hatte immerhin eine weit geschnittene violette Hose dabei, und er meinte, die sieht doch gut aus!

 

Ich erfuhr, dass hier in den Ritualen gesungen wird, dass diese Gesänge ‚Hinos’ oder auf deutsch Hymnen heißen, dass in den Ritualen, die ‚Hinarios’ heißen, auch getanzt wird.

Ich erfuhr, dass diese Hinos ‚empfangen’ werden. Sie werden also nicht komponiert oder getextet, sondern sie werden so, wie sie sind, von den Menschen, die sie empfangen, als eine Melodie mit Text wahrgenommen in diesen besonderen geöffneten Bewusstseinszuständen, in die der Daime einen führt.

 

Ich nutzte die Zeit und lieh mir eine Hymnensammlung aus (Nova Jerusalem). Auch die Hymnensammlung selbst heißt ‚Hinario’. Ich studierte mit einem Wörterbuch die Texte. Ich las immer wieder die Namen ‚Ewige Jungfrau Maria’ und ‚Jesus Christus, der Erlöser’ im Zusammenhang mit ‚beten’ und Demut und so weiter.

 

Ich hatte mich mein ganzes bisheriges Leben aus gutem Grunde von diesem christlichen Schmalz ferngehalten. Und jetzt war ich hier in ein richtiges Nest geraten. Ich kriegte ein mulmiges Gefühl. Ich dachte, ob ich es wohl 10 Tage hier aushalten werde und erkundigte mich, wann das nächste Canoa wieder nach Boca do Acre fährt: etwa ein- bis zweimal pro Woche. Ich beschloss, die geringe Zeit wirklich intensiv zu nutzen, um alles Wichtige kennen zu lernen.

 

So vergingen drei Tage mit stillem Lesen, in denen ich gut mein Brasilianisch/Portugiesisch weiter verbesserte. Ich bestand bei allen Gesprächen darauf, dass ich sie in Brasilianisch führte, um mich zu üben. Auf meinen längeren Spaziergängen durch das Dorf sah ich mir die Menschen an, denen ich begegnete. Die meisten von ihnen sahen richtig ‚gut’ aus: Starke Menschen, Krieger und Kriegerinnen dachte ich. Schon an ihrem Gang, kraftvoll weich und harmonisch ausgeglichen, erkannte ich sie. Aus der Nähe verriet mir das fröhliche Leuchten in ihren Augen, die Anmut ihrer Bewegungen und die Schlichtheit und Geradlinigkeit in ihrem Ausdruck, wen ich vor mir hatte.

 

Bei einigen dagegen konnte ich noch bemerken, dass sie nicht so weit entwickelt waren: Ich fragte jeden von diesen Menschen, mit denen ich ins Gespräch kam, wie lange sie schon in Mapiá lebten oder wie lange sie schon Daime nahmen. Keiner von diesen nahm es länger als vier Jahre. Ich war erstaunt: In nur vier Jahren wird man also in dieser geistigen Richtung so weit entwickelt, dass es richtig deutlich sichtbar ist. Was für eine Geschwindigkeit!

 

Im Dorf herrschte überall freundliche Nachbarschaft. Sehr selten – praktisch nie - wurde über andere mit schlechten Gefühlen geredet.

 

Mich erstaunte auch, dass wohl jeder Einwohner von Mapiá irgendein Buch von Carlos Castaneda in seinem Haus hatte. Sie wurden gegenseitig ausgeliehen. Mit jedem konnte ich über die Details seiner Bücher sprechen. Alle schätzten ihn sehr. Rita meinte, dass Castanedas und ihre Arbeit so ähnlich seien. Ich hatte noch meine stillen Bedenken.

 

Ich erzählte auch nicht, dass ich als ‚toltekischer Krieger’ nach Mapiá kam und dass ich das Ayahuasca und seine Manifestationen ‚anpirschte’.

 

Am 14. Oktober war viel los im Hause von Dario. Er wollte morgen mit Frau und kleiner Tochter fünf Monate nach Chile reisen. Und an diesem letzten Tag wollte er einen Schrank für all sein Werkzeug bauen, damit in seiner Abwesenheit Ordnung herrsche und damit nichts weg komme: Er lud mich ein, ihm dabei zuzusehen und mit anzufassen. Und an diesem Nachmittag und Abend verstand ich, warum der Italiener mich zu ihm empfohlen hatte.

 

Er ist einer der wichtigen Handwerker dieses Dorfes. Ich konnte zusehen, wie ein Mensch aus ein paar Brettern, die er sich tagsüber hingelegt hatte, mit Säge und Hobel und Hammer und Nägeln und Schrauben für eine Ecke seines eigenen Hauses einen Einbauschrank anfertigte und einpasste. Jeder einzelne Handgriff war richtig. Wenn ein Brett gesägt war, hatte es die richtige Länge, jeder Hammerschlag traf genau. An alles war schon in der Vorbereitung gedacht worden. Nichts fehlte. Jede Anweisung an mich war freundlich und gelassen und präzise.

 

Wenn er außer meiner Hand noch eine weitere Hand brauchte, rief er eines seiner Kinder. Sie folgten freundlich und genau. Ich habe noch nie eine Familie gesehen, in der in einer solchen Situation kein lautes Wort fiel, in der die Kinder voller Respekt der unbestreitbaren Autorität des Vaters mitdenkend aufs Wort folgten. Voller Fröhlichkeit und Ruhe und in tiefer Konzentration wuchs der Eckschrank in maximaler Geschwindigkeit seiner Vollendung entgegen. Als Dario die letzte Tür einpasste, machte er noch einen einzigen Hobelstrich, dann klemmte die Tür noch ganz leicht in der Füllung fest, so dass sie sich nicht von allein öffnen konnte: „So soll die Tür schließen“, erklärte er mir.

 

Dann verstaute er sein Werkzeug so, dass alles übersichtlich und leicht erreichbar war, und alles kam an den Platz, der dafür vorgesehen war und der auch dafür passte. Danach gingen wir schlafen. Am nächsten Morgen, als die Dämmerung heraufzog, wurde ich durch ein Lied geweckt, das Dario laut durch das stille Haus sang:

„Levanta te, Guerreiro!“ – „Erhebe dich, Krieger!“ - Dann verließen sie mit wenig Gepäck das Haus für eine halb-jährige Reise in ein fremdes Land.

 

Erst viel später erfuhr ich, dass Dario bis dahin ein einziges Hino empfangen hatte. Und das war das erste Hino, das ich in meinem Leben hörte.

 

8.     Meine erste Concentração

 

Endlich war es so weit, dass sich meine Absicht von vor vielen Monaten verwirklichen würde: Ich war in Mapiá und ich konnte an dem ersten Ritual mit ‚Ayahuasca’, oder besser gesagt, mit ‚Santo Daime’ teilnehmen.

 

Am 15. Oktober um 18 Uhr war ich als einer der ersten in der Kirche. Als es dämmerte, wurde der einzige Geräusch-gedämmte Stromgenerator im Dorf angemacht, damit die sechs Birnen von etwa 200 Watt an der Decke der Kirche ein schwaches, angenehmes Licht werfen konnten, in dem man noch lesen konnte. Bänke wurden aufgestellt. Als die Kirche sich mit etwa 200 Menschen zu etwa einem Drittel gefüllt hatte, begann das Ritual der Concentração mit mehreren Gebeten von „Pai Nosso“ – „Vater Unser“ und „Ave Maria“ – „Gegrüßet seist Du, Maria“.

 

Dann stellte man sich in Reihen an, und jeder erhielt ein Glas Daime, dieses braune Tee-Getränk, das einen stark bitteren und etwas säuerlichen Geschmack haben kann und das etwas mehlig schmeckt von den feinen Schwebteilchen, die sich in ihm befinden. Davor oder danach bekreuzigt man sich mit dem christlichen Kreuz: Drei rechte Finger auf Stirn, unteres Brustbeinende, linke Schulter, rechte Schulter, anschließend Kuss auf den Daumennagel. Das steht für: Vater - Sohn - Heiliger - Geist - Amen.

 

Danach setzten wir uns wieder, die Frauen auf einer Seite der Kirche, die Männer auf der anderen. Padrinho Valdete, der älteste Sohn von Padrinho Sebastião, leitete als ‚Comandante’ die Sitzung. Der Begriff heißt Kommandant und ist ein militärischer Begriff. Er trägt das Kom-mando, er hat das ‚gemeinsame Mandat’, das Co-Mandat aller Beteiligten, dieses Ritual zu leiten als eine Art ‚Kaplan’. Er hat zu sorgen für Harmonie im Tempel, ‚damit der Meister wirken kann’.

 

Seine Helfer heißen ‚Fiscales’, ‚Aufseher’. Sie haben für die äußere Ordnung zu sorgen.

 

Ich dachte, jetzt gehen wir in die Meditation. – Aber man sang erst einige Lieder, deren Texte ich nicht verstand und die mir auch nicht als besonders schön oder als ‚bedeutsam’ im Sinne von ‚empfangen’ erschienen. Das Singen hörte nicht auf. Ich dachte, was soll diese Zeitverschwendung. Ich freute mich so auf die Ruhe und die neuartige Möglichkeit, im ägyptischen Königssitz mit Daime zu meditieren – und dann so etwas...

 

Aber nach etwa 35 Minuten war das Singen zu Ende. Padrinho Valdete sagte langsam und jede Silbe einzeln betonend: “Con-cen-tra-ção-!” und es kehrte Stille ein. Etwa nach weiteren 10 Minuten merkte ich, wie eine wohlige Wachheit meinen Körper durchstreifte. Ich war gewohnt, in normaler Meditation einen einzigen Gedanken, auf den ich mich konzentriert und den ich kontempliert hatte, als letzten zu denken und dann loszulassen in die innere Stille hinein. Wenn ich das jetzt tat, dann war sofort eine Antwort da, bevor ich noch richtig die Stille genießen konnte. Es war nicht mehr die Dunkelheit und Ruhe des inneren Schweigens in die Endlosigkeit der Stille des Meeres der Bewusstheit hinein, es war eher ein schneller Fluss von Wissen, der mich umfloss.

 

Ich hatte ein eigenartiges, völlig unbekanntes Ziehen im Kopf, als würde mein Kopf irgendwie in eine schräge Form gedrückt werden. Dieses Ziehen erkannte ich als eine sehr schnelle Schwingung, die in den ‚gezogenen’ Teilen meines Kopfes vibrierte. Es war äußerst angenehm. Und ich bemerkte, dass mit diesem Ziehen gekoppelt ein seltsames Bild in mein Bewusstsein kam. Es war nicht ein richtiges Bild, sondern eher ein Wissen über das Alte Ägypten: Es war anders, als ich es bisher in den vielen Büchern über Ägypten gelesen hatte.

 

Die großen Pyramiden wurden nicht von Sklaven und von Frondienern erbaut. Sie wurden nicht von ihren Unterdrückern dazu gezwungen. Sie taten es freiwillig. Es wurden keine schweren Peitschen gebraucht, um sie anzutreiben. Sie wussten, warum sie es taten, und sie taten es gern. Sie freuten sich, an dem großen Werk ihrer Generation mitzuarbeiten. Ihr Pharao, ihr geistiger König, der auch ihr weltlicher König war, hatte sie in einen äußeren Orden seiner Mysterienschulen aufgenommen. Dort lernten sie seine geistige Macht kennen. Und dort wurden sie in die anfänglichen Mysterien eingeweiht. Und als Übung bekamen sie die Aufgabe, ihre Arbeiten makellos zu verrichten. Und dieser Arbeitsorden hatte die Aufgabe übertragen bekommen, die Pyramide der jeweiligen Generation zu errichten.

 

Ich war völlig erstaunt, hier im Urwald etwas über Ägypten zu erfahren, was ich noch nicht wusste. Ich öffnete kurz die Augen. Tiefes Schweigen um mich her. Ich schloss meine Augen, und der Strom des Wissens spülte mir weitere Erkenntnisse zu, so viele nacheinander, wie sonst vielleicht in einem halben Jahr guter Meditation.

 

Irgendwann merkte ich, dass mir schlecht wurde. Ich ging zur Brüstung des einen Dreiecks und übergab mich still. Auch andere mussten sich übergeben, zum Teil sehr lautstark. Das Übergeben ist in diesem Zustand nichts Ekliges oder Unangenehmes, sondern eine Art von ekstatischer Befreiung, nach der der Körper verlangt. Unnötiger Ballast wird entfernt. Der Magen will leer sein.

 

Monate später merkte ich, dass dieser Krampf der Magenmuskeln nicht nur eine Reinigung des Körpers bewirkt - dieser Krampf mit seiner Ekstase des sich Übergebens reinigt psychisch. So kommt im Laufe der Arbeiten ein Problem nach dem anderen an die Reihe und wird aufgearbeitet, neu durchgekaut, rekapituliert. Und wenn es zu groß ist, um rein geistig nachverdaut zu werden, dann ist es unverdaulich, und dann wird dieses Problem einfach vom Körper ausgekotzt. Ich merkte nach einiger Erfahrung damit, wie nach einem solchen Erbrechen manche Probleme anders aussehen als vorher. Danach sind sie dann zumindest für heute genügend bearbeitet, und das Nächste kommt an die Reihe.

 

Auch die Lautstärke des Kotzens hängt mit der Schwere und Gewalt des Problems zusammen. Das Problem mit seinem ihm innewohnenden ‚Geist’ hat sich im Körper häuslich eingerichtet und weigert sich, gestört zu werden. Nur mit der brutalen Kraft der Magenmuskeln, die sich unerbittlich zusammenziehen und die Gewalt dafür aufbringen, lassen sich diese ungebetenen Gäste vor die Tür setzen. Die Ur-Geräusche eines brutalen Erbrechens sind gleichsam die Schreie dieser Dämonen, die das Leben zur Qual machten.

 

Als ich auf den nächtlichen gepflegten Rasen mit den Büschen im Licht des Halbmonds schaute, wunderte ich mich: Ich sah eine merkwürdige Welt, die ich nicht kannte. Mir war sofort klar, dass ich jetzt die Welt anders montierte als normal. Ich freute mich und untersuchte das Phänomen: In diesem Halbdunkel baute ich die schwach erkennbaren Formen von Hell und Dunkel zu Wesen zusammen, die ihr statisches Eigenleben zu führen schienen. Diese Wesen hatten einen erkennbaren Charakter und Schönheit, in die ich versinken konnte. Aber ich ging wieder zu meiner Bank und meditierte weiter.

 

Dann stimmte Valdete ein stilles sehr schönes Lied an: „Firmeza, Firmeza no amor...“.

„Festigkeit, Festigkeit in der Liebe...“. Von Zeit zu Zeit kam ein weiteres schönes, starkes Lied in die Stille hinein, das jedes Mal die Meditation stärkte und anregte. Ich hörte das ‚Firmeza’-Hinario.

 

Danach gab es eine zweite Dosis Daime für jeden. Und dann eine zweite schöne Meditation. Danach wurden wieder Hinos gesungen. Alle standen auf. Um mich herum sah ich schöne, kraftvolle Menschen, erfüllt von Lebensfreude, die jubelnd diese eigenartigen Lieder sangen, die ich mehr und mehr als schön empfand.

 

 

9.  Meine Vision

 

Dann kam ein Lied, das mich wie elektrisierte vor Kraft und Schönheit. Später erfuhr ich, dass dieses das Hino war, das Valdete vor wenigen Wochen als sein drittes Hino nach langer Zeit empfangen hatte: ‚Eu peço ao meu São Miguel’ – ‚Ich bitte zu meinem Heiligen Michael’. Ich wurde richtig angesteckt von der jubelnden Freude überall um mich her. Ich blickte zu meinen Nachbarn hin und fing an zu hüpfen vor lauter Energie.

 

Dabei fiel mir plötzlich ein: „Was mache ich hier eigentlich im Urwald?“ –

„Ich bin in einer Konzentration.“ –

„Was ist eine Konzentration?“ -

„Das ist das ‚Ausrichten zum Zentrum’ hin.“ –

„Wo ist das Zentrum?“ –

„Das Zentrum ist das Zentrum dieser Kirche, die Zentralachse des Kosmos.“ –

„Also richte ich mich dahin aus.“

 

Und ich begann, meinen Körper zu diesem Zentrum hin zu drehen, das etwa vier Meter von mir entfernt war. Und als meine Augäpfel in der letzten sakkadischen Bewegung gerade bei diesem Holz ankamen, genau in diesem Augenblick blicke ich in das Gesicht eines Menschen. Das Bild des Tempels ist plötzlich ausgelöscht. Stattdessen blicke ich in ein Gesicht.

 

Ich erstarre vor Schreck. Ich merke, wie mein Unterkiefer herabfällt.

„Was ist das?“ –

Es ist ein männliches Gesicht, das mich voll anblickt. Es ist schön und unsagbar kraftvoll. Es strahlt Macht aus. Von ihm geht ein Strom aus, der mich erfüllt. Es ist dreidimensional, völlig wirklich und dort, wo das Holz war.

 

Ich versuche, irgendetwas zu tun. Ich möchte mich sammeln. Ich möchte mich würdig und angemessen verhalten. Aber ich bin völlig erstarrt. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Darauf bin ich nicht vorbereitet.

 

Aber ich merke, wie in mir langsam ein Gedanke reift. Er ist unglaublich. Aber Nichts führt an ihm vorbei. Und in dem Moment, als der Gedanke dann hochsteigt, genau in diesem Augenblick blicke ich schlagartig auf das Holz des Zentralbalkens der Kirche.

 

Ich starrte weiter auf dieses Holz und konnte es nicht fassen. Der Gedanke denkt sich von allein: „Das ist Gott!“ -

„Das ist unbezweifelbar Gott. Das ist so wirklich, wie ich noch niemals in meinem Leben etwas tatsächlich erlebt habe.“ -

„Er sah aber ganz anders aus als die Bilder, die ich von Jesus kenne.“ -

„Das ist Sein Geistiger Körper, der ganz aus Absicht gemacht ist.“ –

„Das ist das Bild von Ihm, mit dem Er Sich mir zeigen wollte.“ –

„Er ist eine Sonne der Liebe.“ –

„Von Ihm strahlt tatsächlich die Liebe aus, so wie von der Sonne das Licht und die Wärme, die unsere Erde leben lässt.“ –

„Er hat sich mir gezeigt.“ –

„Wieso? – Was will Er damit?“ –

„Ach, deshalb singen sie alle so viel über Jesus und Maria.“ –

„Er ist also tatsächlich hier im Tempel anwesend.“ –

„Und Er ist der Meister, der jeden Einzelnen persönlich unterrichtet.“ –

„Und Er kam ohne irgend ein Geräusch.“ –

„Ja, tatsächlich, ich habe überhaupt kein Geräusch dabei gehört.“ –

„Ich komme im Säuseln des Windes.“ –

 

So stand ich erstarrt, und die Gedanken schossen wie Blitze durch meinen Kopf. Das alles mochte vielleicht zehn Sekunden gedauert haben. Um mich herum hörte ich wieder meine Nachbarn singen. Ich schaute sie unauffällig an: Niemand hatte irgendetwas gemerkt. Alle sangen sie jubelnd und in sich versunken dieses Hino weiter.

Kurz danach war das Ritual zu Ende. Die Gebete vom Anfang wurden wiederholt. Eine Nachbarin, die einige Häuser weiter in meiner Richtung wohnte, Maria Eugènia, bot mir an, mit mir zusammen durch das nächtlich ruhige Dorf ohne Straßenlampen zu gehen. So ging ich im Licht des Halbmonds zwei Schritte hinter ihr die Lehmpfade des Dorfes entlang. Und ich freute mich, wie schön es ist, auf den Spuren einer Kriegerin zu gehen mit ihrem kraftvoll, fließend leichten Schritt.

 

Danach legte ich mich noch ein wenig unter den freien Himmel auf die Erde. In meinem Kopf drehte sich Alles nur um Ein Ereignis: Die Achse des Kosmos hat sich mir offenbart. Und dieses ist bis heute das entscheidende Ereignis meines Lebens geblieben, aus dem ich Kraft und Vertrauen schöpfen kann, aus dem mir Inspiration erwächst und Freude und wodurch sich für mich so vieles Unklare klären konnte.

 

Danach ging ich ‚schlafen’. Ich lag noch lange wach, ich ruhte ohne eine Bewegung mit ganz flachem Atem und genoss die Stille, die Stille des Urwalds um mich her und die kristallene, tönende Stille in mir drin.

 

 

10.  Die Tage danach

 

Am nächsten Tag wollte ich dieses Ereignis genauer analysieren.

Wo gab es in der Literatur Vergleichbares?

 

Mir fiel sofort Castaneda ein. Er beschreibt, wie er von Don Juan der Form des Menschen gegenübergestellt wird. Er wirft sich ihr zu Füßen und verehrt sie als Gott, während Don Juan ihm vergeblich klar zu machen versucht, dass das nur die Form des Menschen sei.

 

Ich hatte glücklicherweise den 6. und 7. Band von Castaneda mit auf meine Reise genommen. So schaute ich nach und fand die Stelle im 7. Band, im ‚Feuer von Innen’, Kapitel 16. ‚Die Form des Menschen’.( ISBN 3-10-010206-1)

 

Als ich das las, merkte ich, dass dies eine Beschreibung für ein anderes Phänomen ist. Ich wusste nur nicht, weshalb. Ich brauchte etwa ein halbes Jahr, bis es mir plötzlich, ohne dass ich weiter daran gedacht hatte, einfiel.

 

Der Satz ‚Er hat keine Macht.’ stimmte hier nicht. (S. 254: ‚..., und ohne alle Macht.’ und S. 255: ‚...,das so gar keine Macht habe, irgendetwas zu bewirken.’) Dieses ‚Wesen’ hat Macht. Er kennt mein Bewusstsein besser als ich und Er weiß auf den Augenblick genau, wann ich mich auf Ihn konzentrieren würde, und Er weiß, wie Er mir zu erscheinen hat, um mich optimal zu beeindrucken. Und Er weiß auf den Augenblick genau, wann ich Ihn genug erkannt habe, so dass Er mich dann wieder für mich sein lassen konnte. Er konnte von Sich aus mir erscheinen, und Er war in diesem Ritual derjenige, der im Zentrum dieser Kirche nach Fug und Recht sein konnte, und niemand sonst. Er ist die Zentralachse des Kosmos. In einem Ritual für Christus als Meister – wer hätte die Erlaubnis, sich so etwas zu leisten? - Nur Er Selbst! - Seine Macht hat Er mir danach immer wieder gezeigt. Alle Menschen um mich herum kannten diese Macht. Weshalb waren sie sonst hier?

 

Er ist tatsächlich der Sonnengott ‚Sol invictus’: Er ist die Sonne der Liebe. Mir wurde es erst danach klar, was mich an Ihm so bewegt hatte. Natürlich auch Seine Präzision, Seine Vollkommenheit. Aber es war hauptsächlich noch etwas anderes. Er ist eine Sonne der Liebe: Liebe strahlt von Ihm aus und durchstrahlt mich und lässt mich Ihn lieben mehr und mehr, je mehr ich mich entwickele. Seine Liebe, die Er aus Sich heraus ausstrahlt, ist bedingungslos. Sie ist so, wie die Sonne ihr Licht ausstrahlt: Überall hin, auf Alle strahlt sie. Jeder wird von Ihm geliebt. Wir alle als Seine Kinder werden von Ihm bedingungslos geliebt.

 

Diese zehn Sekunden von Angesicht zu Angesicht in Seiner Liebe zu stehen ist das größte Erlebnis meines Lebens. Es ist wirklicher als irgendetwas anderes, das ich bisher erlebt habe. Dies ist eine Wirklichkeit jenseits irgendwelcher Illusion. Hieran messe ich alles andere. Dies ist der Bezugspunkt in meinem Leben. Das ist mein Fundament, auf dem ich seitdem mein Weltbild neu aufbaue.

 

Jedes neue Erlebnis mit Ihm zeigt mir andere Facetten von Ihm. Sein Wesen wächst allmählich in meinem Bewusstsein. ...

 

Warum hat Er Sich mir gezeigt? - Ich denke immer wieder darüber nach. Ein wichtiger Grund ist: Ich bin ein Naturwissenschaftler. Ich habe als eine Grundthese meines Lebens: Der echte, unerschütterliche Glaube ist eine Wirkung des Wissens. Wenn ich etwas weiß, dann kann ich auch daran glauben. Dann kann ich also so handeln, wie ich weiß, dass es nach meinem Wissen richtig ist. Der Glaube ist diejenige Kraft, die das Wissen in das Handeln transformiert. Ich bin also ein ‚Ungläubiger Thomas’: Ich glaube nur, wenn ich auch weiß – sonst nicht. Sonst nenne ich den ‚Glauben’ Hypothese und untersuche ihn weiter, bis er für mich unzweifelhaft als bewiesen gelten kann. Danach ist dann das Zweifeln etwas, das nicht mehr zweckmäßig ist, sondern nur noch die Effektivität mindert.

 

Nachmittags ging ich zu Rita, denn wir hatten uns gestern verabredet, um über mein erstes Ritual in Mapiá zu reden. Wir hatten uns gerade begrüßt und auf der Veranda Platz genommen und noch kein weiteres Wort gewechselt, da schaute sie mich plötzlich ganz genau an, mitten in mein linkes Auge und fragte: „Hast Du Jesus gesehen?“ –

 

Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet. –

Wie konnte sie das wissen? –

Ach, ist das etwa die normale Initiation für jeden, der hier das Ritual besucht? –

Hat sie so Etwas auch erlebt? –

Was mache ich jetzt? –

Sage ich ihr die Wahrheit? –

 

Ich hatte gelernt und es zutiefst verinnerlicht: „Psychische Erlebnisse sind streng persönlich. Man redet nicht über sie. Und falls doch, dann erst nach langen Jahren der Durcharbeitung. Denn sonst entlädt sich die psychische Ladung, die diese Erlebnisse erst so bedeutend für die eigene Entwicklung machen.“

 

Aber dieses war eine direkte Frage. Die musste ich beantworten. Und jetzt zu lügen, das wäre wirklich nicht angemessen gewesen.

Also sagte ich nach diesen zehn Sekunden zögerlich und schüchtern: „Ja“ und schaute sie dabei aufmerksam an. –

Sie nahm es als eine sachliche Information zu Kenntnis.

 

In diesem Moment, einige Sekunden danach, kam Padrinho Valdete zufälligerweise an der Veranda vorbei und statt einer Begrüßung rief ihm Rita schon aus einigen Metern Entfernung die Neuigkeit zu: „Padrinho Valdete, Bernardo hat Jesus gesehen. Ich denke, das ist ein gutes Omen. Meinen Sie nicht auch?“ –

 

Valdete schaute ihr lange und ohne ein Wort zu sagen, in die Augen. – Was mochte er jetzt denken? Das hätte ich zu gern gewusst. – Was bedeutete das alles für mich? – Aber es war alles so neu für mich. Ich traute mich nicht zu fragen...

Zumindest diese zwei Menschen mussten wohl wissen, was ich so in etwa erlebt haben mochte.

Nach einer kurzen Unterhaltung über andere Dinge ging er weiter, ohne mich weiter angeschaut zu haben. Es war eine Begegnung zwischen den Beiden gewesen.

 

Und ich dachte verwirrt, merkwürdig, jetzt habe ich mein intimstes Erlebnis einmal erzählt und 10 Sekunden später wissen es schon zwei andere. Und ich nahm das als Omen. Danach kamen andere. Die führten dazu, dass ich diese Erlebnisse jetzt, über sieben Jahre danach, für Dich niederschreibe.

 

Die folgenden Tage las ich weiterhin viel die Textbücher der Hinarios. Und mit dieser Prämisse, dass Christus tat-sächlich der Meister des Rituals ist, wurden sie mir viel besser verständlich.

 

 

11.  Padrinho Sebastião

 

Eine Woche später war das nächste Mal, dass ich Santo Daime bekommen konnte. Es war ein Ritual mit Namen ‚Hinario’. Es wurde ein gesamtes Hinario, nacheinander empfangen von einem einzigen Menschen gesungen und dazu wurde getanzt.

 

Ich war vor Beginn des Rituals zu Rita gegangen, und sie zeigte mir die Tanzschritte und gab mir alle möglichen Informationen über das, was heute geschehen würde.

 

Dann gingen wir zur Kirche auf den Hügel. Auf dem Weg dorthin blieb sie kurz stehen und sagte: „Ich weiß übrigens nicht, warum Mestre Irineu und Padrinho Sebastião gestorben sind.“ Dann ging sie weiter.

 

Ich schaute sie verblüfft an und überlegte, was sie damit gemeint haben könnte.

Wir hatten bei unseren Begegnungen viel über Carlos Castaneda und viele der Themen aus seinen Büchern gesprochen und natürlich auch über den siebten Band ‚Das Feuer von innen’. Meinte sie vielleicht, dass es Mestre Irineu und Padrinho Sebastião möglich gewesen sein könnte, durch das Feuer von innen zu gehen, anstatt den Tod zu wählen? – Das musste sie meinen!

 

Als ich soweit gedacht hatte, antwortete ich ihr: „Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht.“

 

Schweigend gingen wir weiter den Hügel hinauf, und ich nahm den für mich neuen Gedanken mit in meine Überlegungen hinein: Hier gab es eventuell Menschen, die die freie Wahl über ihre Todesart hatten, und die dann den ‚normalen’ Tod wählten..., was könnte der Grund sein? – Diese Frage hat mich viele Jahre lang in meinen Forschungen vorangetrieben – bis heute.

 

Im ersten Teil des Hinarios tanzte ich mit den anderen normal mit. Doch plötzlich merkte ich, dass für mich wieder eine andere Wirklichkeit beginnen würde. Ich stand an meinem Platz und konnte nicht mehr tanzen. Ich schloss die Augen und sah ein eigenartig bläuliches Leuchten um mich. Ich fühlte, wie ein Wesen links von mir an mich herantrat. Weil ich in den letzten Tagen viel über den Erzengel Michael mit anderen Menschen in Mapiá geredet hatte, schoss mir der Gedanke durch den Kopf: „Das könnte Michael sein.“

 

Und ich fragte in die Stille in meinem Kopf hinein: „Bist Du Michael?“

Und im Innern meines Kopfes hörte ich ein tonloses: „Ja.“

 

Daraufhin ließ ich alle Beunruhigung weg und wurde ganz passiv: Michael fasste einen Teil meines Kokons weit oberhalb meines Kopfes an und ‚klappte ihn nach hinten’, wie um eine Öffnung im Oberteil meiner Aura zu machen. Dann merkte ich, wie sich durch diese Öffnung langsam ein intensives Leuchten von vielleicht einem Zentimeter im Durchmesser in mich hineinsenkte und dann ganz langsam im Laufe von mehreren Minuten durch meinen Kopf und tiefer bis in mein Herz herunter ging und dann in meinem Herzen Platz nahm. Michael klappte die Öffnung wieder zu, und diese Vision war damit vorbei. Die anderen um mich herum tanzten, und ich begann wieder, mit ihnen mitzutanzen.

 

Ich wusste, ich hatte eine Initiation erfahren: Gott, den ich das letzte Mal als außerhalb von mir wahrgenommen hatte, hatte mir bildlich gezeigt, dass Er auch in meinem Innern, und zwar in meinem Herzen, im Zentrum meines Herzens wohnte und dort Platz genommen hatte. Und ich hatte eben erfahren, wie es sich anfühlt, Ihn wissentlich in mir zu haben.

 

Ich hatte früher schon die Tatsache zur Kenntnis genommen, dass es im Herzen einen genau definierten Punkt gab, der als das eigentliche Zentrum angesehen wird. Und genau an diese Stelle war das Leuchten gewandert und dann dort geblieben.

 

Ich tanzte weiter.

Zur Hälfte des Rituals wurde ich schlapp, und es ging mir zunehmend schlechter. Ich musste mich übergeben. Ich war am Gähnen und konnte überhaupt nicht wieder mit dem Gähnen aufhören. Ich hatte mich auf eine Bank am Rande gesetzt und gähnte vor mich hin. Mein Körper hing schlaff nach vorn. Ich konnte nicht mehr sitzen, Alles tat mir weh. Nach etwa 15 Minuten Gähnen hatte ich einen Krampf in dem Muskel, der unter der Zunge innen im Kinn die Kieferlade herunterklappt. Ich musste das Kinn im Kiefergelenk nach vorn schieben und meinen Kopf im Nacken nach oben strecken, um den Krampf unter Kontrolle zu bekommen. Das Gähnen ging aber davon unbeeinflusst weiter.

 

Dazu kamen Gedanken, die ich als fremd von mir empfand:

„Warum bin ich eigentlich hier? Ich bin hier mitten im Urwald, ich nehme ein Getränk ein, und mir geht es schlecht. Was soll das alles? Das Beste ist, ich fahre schnell wieder weg und mache den Urlaub, den ich mir vorgenommen habe. Jetzt ist noch Zeit. Ich wollte sowieso nur eine Woche bleiben. Die ist jetzt rum.“ - Der ‚Flyer’s mind’ redete Klartext mit mir. Dieser englische Begriff, den ich erst ein Jahr später kennen lernte, stammt aus der Linie von Carlos Castaneda. Er besagt, dass ‚mein’ Verstand ‚eine fremde Installation’ ist und nicht ‚mein’ ist, sondern so tut, als wäre er ‚ich’, denn er redet zu mir in der ‚Ich’-Form.

 

Es spielte überhaupt keine Rolle, dass ich eben die Initiation erlebt hatte, Gott in mir zu erkennen, alles Vorhergehende war wie eine schwache Erinnerung, die mich nicht im Geringsten aufrichten konnte.

Ich fühlte mich fremd hier. Die Musik war mir zu viel, ich war todmüde und wollte eigentlich nur in Ruhe irgendwo liegen.

 

Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, ich stand auf und ging aus der Kirche hinaus. Im Gang vor der Tür sagte mir ein Fiscal, der dafür sorgt, dass es allen Teilnehmern gut geht und dass die Struktur des Rituals eingehalten wird, ich könne jetzt nicht weggehen, denn das Ritual sei noch nicht zu Ende, ich könne mich aber auf diesem Hügel im Kirchenbezirk aufhalten oder ich könne in das Mausoleum von Padrinho Sebastião gehen.

 

Oh! Die Grabstätte von Padrinho Sebastião hatte ich bisher nur abgeschlossen erlebt. Sie war jetzt offen? – Wie schön!

 

Meine schlechte Laune war von einer Sekunde zur anderen verflogen. Ein Wunsch von mir ging in Erfüllung. Vor dem Eingang der Kirche war der Eingang des Mausoleums so, dass von dort ein direkter Blick in die Kirche möglich ist.

 

Ich stand im Eingang und sah einen schönen Raum mit wunderbar eingelegtem Holzfußboden und mit dem Sargbehälter in der Mitte, mit einer Skulptur eines liegenden Lammes davor und Girlanden an der Decke, von den Kindern des Dorfes ausgeschnitten, und einem Bild von Jesus, einem Foto von Mestre Irineu und einem von Padrinho Sebastião.

 

Ich begrüßte ihn rituell, setzte mich auf einen Sitzplatz und ging in Konzentration und ließ alle meine Erlebnisse, die mich hierher geführt hatten, noch einmal vor mir ablaufen, wie um ihm das alles zu schildern. Ich bedankte mich bei ihm für die Möglichkeit, die er auch mir geschaffen hatte, indem er Céu do Mapiá erbaut hatte und diese herrliche, makellose Kirche gegründet hatte.

 

Die Konzentration, in der ich mich befand, stärkte mich, und als ich die jubelnden Melodien hörte, die ich von dem vorigen Ritual schon kannte, die ‚Ultimos Hinos’, die ‚letzten Hinos’, stand ich auf, verabschiedete mich rituell und ging wieder in die Kirche und tanzte gestärkt beim Abschluss des Rituals wieder mit.

 

Nach Abschluss des Rituals ging ich wieder in das Mausoleum, um die Ruhe dort weiter zu genießen und um noch Zwiesprache mit Padrinho Sebastião zu pflegen, die mir eben so gut getan hatte. Einige Kinder kamen herein und setzten sich an die andere Seite des Sarkophags und redeten leise miteinander und gingen dann wieder hinaus.

 

Ich hörte von fern, wie sich die Kirche leerte. Dann blieben noch die Stimmen eines Mannes und einer Frau, die sich ruhig vor der Tür unterhielten. Schließlich hatte ich mich lange genug in der Ruhe gestärkt, um wieder hinaustreten zu können. Die zwei Menschen hatten auf mich gewartet, weil sie die Tür des Mausoleums abzuschließen hatten.

 

Wir waren zu dritt in einer windstillen Nacht in den Tropen. Kein Wölkchen war am Himmel. Da fuhr eine leichte Windbö um uns herum, und ich sah, wie das Palmendach der Kirche sich bewegte.

 

Ich stand direkt vor dem Eingang der Kirche, einem der sechs äußeren kleineren Dreiecke. Links und rechts vom Eingang sah ich je ein weiteres Dreieck. Die hexagrammförmige Kirche war an ihren Seitendreiecken mit Palmenblättern bedeckt, und die Fransen der riesigen Blätterbüschel hingen über den Rand der Dreiecke herab, und so sahen diese zwei seitlichen Dreiecke aus wie die Flügel eines riesigen Vogels.

 

Und von dem Standpunkt aus, den ich in diesem Augenblick einnahm, sah ich direkt in den Eingang der Kirche, in den Schnabel des Vogels hinein: Denn diese offene Dreiecksspitze sah wie der scharfe geöffnete Schnabel des Adlers aus. Und ich musste an das Bild aus Castaneda denken, in dem der Adler beim Sterben der Menschen mit seinem Schnabel die Bewusstheit aus ihnen herausquetscht, um sie zu verspeisen, denn die Bewusstheit ist die Speise des Adlers.

 

Und in diesem Moment fiel mir schlagartig ein Traum ein. Ich hatte ihn vor vielen Monaten gehabt. Ich hatte ihn leider nicht aufgeschrieben, so dass ich nicht mehr das genaue Datum rekonstruieren konnte. Und ich hatte ihn am selben Tag, an dem ich ihn geträumt hatte, wieder vergessen. Aber ich hatte den Traum in Europa gehabt, wahrscheinlich um die Zeit des Telefonanrufs herum, der mich letztlich hierher gebracht hatte. Und das war vor fünf Monaten gewesen.

 

In dem Traum war dieser unermesslich große Adler auf mich zu gekommen, und ich wusste, jetzt würde er meine Bewusstheit verspeisen. Und in meinem Traum öffnete der Adler seinen Schnabel, und ich ging in diesen weit geöffneten Schnabel des Adlers hinein, und ich kam in sein Körperinneres. Und sein Magen war ein riesiger Saal. Und dort sah ich viele fröhliche Menschen, die zusammen feierten, und ich gesellte mich zu ihnen und feierte mit ihnen. Dann wachte ich richtig fröhlich auf.

 

Heute merkte ich, dass dieser Traum mir mein Erlebnis hier in Mapiá vorweg gezeigt hatte.

Wie war das möglich?

Wie konnte Padrinho Sebastião mir diesen Traum schicken, wo er mich doch überhaupt nicht kannte?

Und wie konnte er dafür sorgen, dass ich hier durch diesen Windstoss und durch diesen besonderen Blickpunkt nach meiner Begegnung mit ihm so an meinen Traum erinnert wurde?

Hatte Padrinho Sebastião mich vielleicht sogar hierher geholt mit seiner Absicht?

Und warum mich?

Mein Herz pochte, ich musste schlucken, und ein Schauder rann über meinen Rücken. Erst einige Jahre später merkte ich, dass die Ursachenkette wohl noch weiter führte.

 

Ich dachte daran, dass Padrinho Sebastião den Tod gewählt hatte. Ich dachte an die schöne Art, in der er so bei uns ist, in der er sich also immer noch so direkt mit uns in Verbindung setzen konnte. Ich dachte an meine Zwiesprache mit ihm. Und ich konnte nicht mehr leugnen: Er war bei mir. Und das wäre so wohl nicht möglich gewesen, wenn er das Feuer von innen gewählt hätte.

 

Ich habe im Lauf der Jahre so viele intensive Lehren von Padrinho Sebastião erhalten, hatte so viele Male Kontakt mit ihm, dass ich bestätigen kann, dass er lebt und dass er sich um die Menschen, die in seiner Linie sind, intensiv kümmert, ohne dass er dazu einen materiellen Körper benötigen würde. Seine Lehren sind oftmals richtig streng. Er mag nicht, wenn ich mich gehen lasse, und er weist mich durch Omen so nachdrücklich darauf hin, dass ich häufig erröten muss und mich schäme, wenn ich wieder so eine Lehre bekommen habe.

 

Ich weiß aus vielen Hinos, dass ich nicht der einzige bin, der seine Präsenz wahrnimmt, z.B.:

O cuidado do Padrinho  É um aviso de irmão  Um, um, um,  um, um 

Se acordem, meus irmãos  [NE5]

 

In den Hinos wird auch häufig darauf hingewiesen, dass er derjenige ist, der ein halbes Jahr vor Jesus geboren wurde, der den Namen Johannes der Täufer trug und der Jesus im Jordan getauft hatte. Johannes war der direkte Vorgänger von Ihm. Johannes der Täufer war die letzte Inkarnation vor dieser mit dem Namen Padrinho Sebastião. Diese war die letzte Inkarnation dieses Wesens, das jetzt frei ist, frei von weiteren notwendigen Inkarnationen.

 

Im Jahr 2003 erlebte ich in der Mitte eines Hinarios, das wir sitzend sangen, wie plötzlich diese Energie, die ich als Padrinho Sebastão erkannte, mich umhüllte, und dann erlebte ich eine solch starke mich umströmende Energie, dass ich sie fast nicht ertragen konnte. Ich entschwand aus Raum und Zeit mit meinem Bewusstsein und war eingebettet in den feurigen, wirbelnden Energiestrom, der mich wusch und reinigte und kräftigte. Als ich daraus wieder hervorkam, war ich völlig außer Atem, und mein Körper fühlte sich phantastisch gut an: „Ich taufe mit Feuer.“

 

Für mich ist Padrinho Sebastião Johannes der Täufer, und er ist einer der Lebenden, ein kosmischer Meister.

 

 

12.   C. R. F.

 

Ich hatte zum ersten Mal Zeit gehabt, eine weibliche Farda, die Ritualkleidung der Frauen, die weibliche ‚Uniform’ mit Aufmerksamkeit aus der Nähe anzusehen. Ich hatte meine Aufmerksamkeit bisher immer auf ‚Wichtigeres’ gerichtet, auf die Gesichter, die Symbole, meine eigenen Visionen, die Tanzschritte, die Hinos und ihre Texte, die Klangfarben der Hinos, all das Unbekannte, das mich überall hier umgab, die ganze unbekannte, neue Kultur.

 

Als ich mir die Farda näher anguckte, stockte mir fast der Atem: Ich sah auf der linken Seite der Bluse in blauer Farbe auf weiß die zwei verschlungenen Dreiecke, und in ihnen den Adler, der sich aus der liegenden Mondsichel erhebt.

Darüber prangten die drei Buchstaben mit jeweils einem Punkt dahinter:

 

„C. R. F.“

 

Einem anderen mochten diese drei Buchstaben wenig sagen, aber ich war im Orden vom Rosenkreuz, A.M.O.R.C. erzogen worden, und umgekehrt geschrieben sind sie die Abkürzung von ‚Frater Rosae Crucis, F. R. C.’. Rosenkreuzer haben überdies noch aus den qabalistischen Techniken die Art übernommen, manche Dinge verschlüsselt auszudrücken. So gehört die umgekehrte Schreibweise von hinten nach vorn zu den Techniken, die ein Schüler einfach können muss, wenn er Symbole in alten Schriften entschlüsseln will.

 

Ich fragte, was die drei Buchstaben zu bedeuten hätten, und mir wurde gesagt:

’Centro de Recreação e de Fé’, ‚Das Zentrum der Wiedererschaffung und des Glaubens’. ‚Recreação’ heißt auch ‚Erholung’: Hierbei ist das ‚hol’ der Stamm zwischen den zwei Vor- und Nachsilben von Er-hol-ung. Das deutsche ‚Hol’ entspricht dem englischen ‚whole’, ‚ganz’ und ‚holy’, heilig und dem griechischen ‚holos’, ‚ganz’. ‚Erholung’ heißt also auf deutsch ‚Ganzwerdung’.

 

Ich fragte, wie dieser Name entstand, und ich erfuhr die Geschichte, dass Mestre Irineu in den Anfängen seiner öffentlichen Arbeiten nach 1928 seiner Gemeinschaft diesen Namen gegeben hatte.

 

Ich fragte gezielt weiter nach: „War Mestre Irineu Rosenkreuzer?“

Erstaunt schaute mich meine Informantin an: „Ja, am Anfang seiner öffentlichen Arbeiten war er mit einer rosenkreuzerischen Gruppe zusammen. Das ist heute praktisch unbekannt.“

 

Viele Wochen später war ich in Rio Branco und fuhr dort auch mit dem Bus bis zur Endstation zu seiner ursprünglichen Kirche ‚Alto Santo’, ‚Das hohe Heiligtum’, und besuchte sein Grab, das in der Nähe davon errichtet ist:

 

In der Natur gelegen auf einer kleinen Anhöhe, umgeben von einer kniehohen Mauer mit einer Eisenpforte ist sein Sarkophag und auch eine Steinfigur von ihm, in der er dargestellt ist mit einer weißen Farda und einer weißen Rose an der Brust. Auch hier also der schlichte Hinweis darauf, dass Mestre Irineu Rosenkreuzer ist.

 

Als ich mich in die Grabstätte begab, zog ich meine Sandalen aus und stellte sie an die Eisenpforte. Dann versenkte ich mich in Meditation und verweilte in der Stille und bedankte mich bei ihm für seine große und gelungene Tat, diese Linie zu öffnen.

Ich wurde nur kurz belästigt von einer Gruppe Schuljungen, die außen an der Grabstätte Lärm machten und mich stören wollten. Ich verharrte aber in meinem Schweigen, und nach einer Weile zogen sie weiter.

Als ich nach etwa eineinhalb Stunden weiterziehen wollte, merkte ich, dass meine Sandalen nicht mehr da waren: Die Kinder hatten sie mitgenommen, hatten sie einfach so einem Besucher einer Grabstätte geklaut. So musste ich barfuß, vorsichtig um die Steinchen auf dem Weg herum jonglierend zur Bushaltestelle zurückgehen. Besonders ärgerlich war, dass ich mir diese wunderbaren Sandalen heute erst frisch gekauft hatte. In Rio Branco zurückgekehrt, ging ich erst zum Hotel, um zu Schuhen zu kommen, und dann kaufte ich mir diese Sandalen ein zweites Mal, obwohl sie sehr teuer waren, denn sie waren wirklich sehr gut, sie waren die besten Sandalen, die ich jemals getragen hatte.

 

Ich brauchte Wochen, bis mir eindeutig klar wurde, dass dieses Ereignis eine Lehre von Mestre Irineu war. Vorher hatte ich immer noch mit dem Zufall gespielt und mit: ‚Das kann im Prinzip jedem passieren’ und ‚So kleine Jungen und schon halbe Verbrecher! Sie haben keinen Respekt vor nichts. Und niemand ist vor ihnen sicher.’

 

Die Lehre, die mir Mestre Irineu so vermittelte, ist:

„Jeder hat auf seine Sachen selbst aufzupassen, egal, was er sonst noch tut.“ –

„Danke!“

 

 

13.   Meine erste Cura

 

Einige Tage nach dem letzten Hinario wurde ich eingeladen, an einer weiteren Arbeit teilzunehmen, die in einem anderen, kleineren Gebäude stattfinden sollte, im Casa da Estrela, dem Sternhaus, einem sechseckigen Holzgebäude im Dorf, das auf Pfählen errichtet war mit einem Holzfußboden auf dem in der Regenzeit feuchteren Untergrund.

 

Das Ritual, das dritte, das ich erlebte, hatte den Namen ‚Cura’, Heilarbeit.

Es hatten etwa 50 Personen Platz um den Tisch, auf dem ein wunderschönes Kreuz war. Die Form dieses Kreuzes war anders als das in der Hauptkirche. Das Kreuzsymbol ist offenbar nicht präzise festgelegt, eigene Interpretationen der inspirierten Künstler können sich ausdrücken, wenn die Form eines senkrechten und zweier waagerechter Balken, der untere länger als der obere, gewahrt bleibt. Das Kreuz steht häufig auf den zwei verschlungenen Dreiecken in der Höhlung der Mondsichel.

 

Männer und Frauen saßen wieder – wie immer in allen Ritualen – auf getrennten Seiten. Ich hatte einen Platz auf einer der hinteren Bänke bekommen. Der Comandante war wie bei allen Ritualen, die ich bis jetzt erlebt hatte, Padrinho Valdete. Es gab eine größere Menge Daime. Dann wurde das Hinario ‚Cura’ im Sitzen gesungen. Ich hatte kein Gesangsbuch, denn in Mapiá gab es kein einziges freies Gesangsbuch: Jeder hatte seine eigenen - und das war’s. So konnte ich nur zuhören, aber nicht selbst mitsingen. Darüber war ich eigentlich froh, denn ich hatte mit den Geschehnissen in mir bisher stets genug zu tun gehabt. Nach dem einleitenden Hinario ‚Oração’, ‚Gebet’, begann die Cura, als das Daime gerade zu wirken begann. Die Gesänge, die angestimmt wurden, waren wunderschön und trugen mich mit ihrer Kraft in meine Visionen hinein.

 

Ich habe die Cura bis heute wohl über 100mal gesungen. Es bleibt eines meiner Lieblings-Hinarios, zusammengestellt aus Hinos von mehreren Autoren, die verschiedene Aspekte der Heilung thematisieren, so jubelnd und klar und stark, dass es mich jedes Mal von Neuem mitreißt. Die Cura hat zwei Teile. Vor dem zweiten Teil wird erneut Daime ausgeschenkt.

 

Ich hatte – soweit ich mich noch erinnern kann - eine einzige sehr lange Vision, in der ich die Geschichte der Menschheit vor meinem geistigen Auge ablaufen sah, nicht in allen Einzelheiten und nicht sehr präzise, also nicht wie in einem Geschichtsbuch beschrieben, aber so, wie der Ablauf entlang der Prinzipien der Schöpfung erfolgte. So wurde mir also - umgekehrt als normal in unserer Erziehung - am Beispiel der Menschheitsgeschichte mehr der Einfluss der Prinzipien auf das Geschehen gezeigt, als das Geschehen selbst. Ich staunte, was ich alles erfuhr und welche Kraft in diesem Getränk und in diesen Ritualen lag.

 

Nachdem der erste Teil der Cura zu Ende war, gab es erneut Daime. Aber ich hatte vom ersten Mal noch eine reichliche Wirkung. Ich wollte nicht mehr, ich hatte genug. Der Fiscal, der den Ausschank machte, fragte Padrinho Valdete, ob das in Ordnung sei, dass ich nichts mehr bekäme. Er schaute mich an, ich machte ihm das Zeichen: „Alles bestens!“, Daumen und Zeigefinger formen einen Kreis, die drei anderen Finger sind nur leicht gekrümmt, und er war einverstanden.

 

Dann begann der zweite Teil. Ich hatte meine Augen fast die ganze Zeit über auf dieses herrliche Kreuz gerichtet, auf das Zentrum des Rituals.

 

Meine Vision ging jetzt in die Zukunft der Menschheit hinein von der Gegenwart aus, und ich erblickte Dinge, an die ich vorher und ohne diese Vision nicht hätte glauben können.

 

Die Zukunft würde ganz anders werden, als ich bisher geglaubt hatte. Ich war vollständig verblüfft, aber die Visionen waren so stimmig, waren alle im Einklang mit den Prinzipien, so dass ich meine eigenen bisherigen ‚wissenschaftlichen’ Vermutungen als durch Weniges gerechtfertigte Annahmen beiseite zu legen hatte. Sie waren nichts als Verlängerungen des bisherigen Bekannten in die Zukunft hinein. Wieder waren die Visionen nicht präzise, so dass ich also nicht Ereignis, Datum und Ort angeben kann, aber ich sah die Schicksalsstränge der Menschheit sich entwickeln, und ich sah, welche Konflikte sich ereignen würden und wie sich die Situation weiter und weiter zuspitzen würde.

 

Die Spannung, in der die Menschen leben, würde wachsen, und zwar überall auf der Erde. Es würde so etwas wie einen neuen Krieg geben, in dem jeder eine Partei ergreifen müsste, und jede Partei würde ‚glauben’, sie sei im Recht. Aber beide Parteien waren nicht im Recht, denn jede würde mit ihren Taten anderen Menschen schaden.

 

Und so gab es noch eine dritte Gruppe von Menschen, die weder bei der einen Partei noch bei der anderen Partei mitmachen würde. (Apokalypse des Johannis 9,15 und ähnliche: ‚…den dritten Teil der Menschen…’) Und zwischen den zwei Parteien und dieser dritten Gruppe würde eine Polarisierung stattfinden, und diese Polarisierung würde mit der Zeit zunehmen. Die Menschen der dritten Gruppe würden abgestoßen werden von den Ungerechtigkeiten und dem Machtmissbrauch jeder der zwei Parteien. Sie würden sich zurückziehen mit ihrem Engagement von beiden Gruppen und würden ihren eigenen Weg gehen, der entlang der Prinzipien der Wahrheit, der Menschenwürde und der Gerechtigkeit geradlinig in die Zukunft führen würde. Dieser Weg würde sich mehr und mehr entfernen von den zwei anderen Wegen, neue Strukturen würden auf ihm entstehen, die effektiv diese Prinzipien zu verwirklichen helfen.

 

In dieser Situation würden sich die Gräuel der Menschheit gegen sich selbst weiter vermehren. Jeder einzelne Mensch wird vor die unausweichliche Entscheidung gestellt werden:

 

„Mache ich hier noch weiter mit, auch wenn ich weiß, dass es so nicht mehr weiter gehen kann, dass ein Leben in dieser Konsequenz nicht mehr menschlich genannt werden kann? Bin ich bereit, alles, was mir heilig und lieb ist, zu opfern, um in diesem Krieg siegreich bleiben zu können? Bin ich bereit, auch meinen Bruder zu verraten, wenn es um meine eigene Macht oder um das eigene Leben geht?“

 

Mich erschütterten die Bilder, und ich musste schwer und tief atmen, um das alles durchstehen zu können.

 

Ich sah auch meine eigene Aufgabe in dieser Zeit, die auf uns zukommt. Erstaunlicherweise war sie das Schönste, was ich mir nur hätte erträumen können: Ich sollte das Wichtigste, was ich in meinem Leben gelernt und erfahren habe, in meinen eigenen Worten ‚zu Papier’ bringen und es allen den Menschen, die das zur Kenntnis nehmen wollen, zur Verfügung stellen, ohne irgendetwas zu verschweigen. Alles, was mir zugänglich sei, solle ich an jeden Interessierten ohne Ansehen der Person weitergeben. Denn diese Linie sei auf Wahrheit und Offenheit aufgebaut. Hier gibt es kein Geheimnis. Was ich hier erfahre, sei für jeden bestimmt.

 

Ich fragte: „Alles?“ – Und bekam die tonlose Antwort: „Ja.“

So merkte ich, dass alles, was ich in Zukunft noch erfahren würde, mit in diesen Bericht hineinkommen müsste. Ich merkte:

Meine eigentliche Lehrzeit hatte jetzt gerade in diesem Moment begonnen.

 

Die zwei Rituale vorher dienten der Stärkung meines Glaubens und um mich richtig vorzubereiten. Die Jahrzehnte vorher, mein ganzes Leben vorher hatte mich bereit gemacht, diese Aufgabe zu empfangen.

 

 

Ein kleiner Exkurs in Klammern:

[Jahre später wurde mir hierzu klar, wie die Macht unterscheidet zwischen dem ‚freien Wissen’ und dem ‚verborgenen Wissen’. Ich habe immer wieder einmal Wissen erfahren, von dem ich weiß, dass es das gibt, denn ich hatte es als wahr und als überwältigend erkannt, vielleicht so um die 20 Male in meinem Leben bisher. Es handelte sich jedes Mal um einen anderen Aspekt des Wissens als die Male davor.

Ja, es war von einer solchen Qualität, dass ich innerlich aufjubelte, dass mein Körper nach Luft japste: Ich wusste, das dieses eine Prinzip, das ich eben erfahren hatte, die ganze Entwicklung der Menschheit vollständig verändern würde. Alles könnte anders beurteilt werden, die Entscheidungen würden mit diesem Wissen in eine ganz andere Bahn gelenkt werden. Herrlich! Welch eine schöne Zukunft steht uns bevor!

Und in dem Moment, als ich dieses Prinzip für mich formulieren wollte, um es weitergeben zu können, da versank meine Erinnerung daran im Laufe von wenigen Sekunden. Ich merkte, sie wurde schwächer, und ich hatte keinen Ariadnefaden in meiner Hand, an dem ich dorthin hätte zurückfinden können. Es gab nichts in meiner alltäglichen Welt, das eine Verbindung dazu hergestellt hätte, es gab keine Eselsbrücke, es gab kein Wort, das ich mir hätte merken können: Es wurde mir streng persönlich und nur für diesen Moment ohne Erinnerung gegeben, also nur als stilles Wissen und nicht als Erkenntnis.

Ich kann nicht darüber erzählen, ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern. Ich weiß nur, dass ich es bekommen habe. Und das kann ich weitergeben, aber nicht mehr. Wenn ich es länger hätte betrachten können oder wenn mir die Erkenntnis langsamer gegeben worden wäre, ja, dann hätte ich es klar und präzise formulieren können. Aber es wurde mir anders gegeben. Ich kann also dieses weitergeben: Es gibt ein neuartiges Wissen, das uns zur Zeit noch verborgen ist, das uns aber in Kürze eröffnet werden wird, und mit diesem neuen Wissen wird die Bahn der menschlichen Entwicklung in ‚unvorhersehbare’ Bahnen gelenkt werden. Es gibt Grund zum Jubeln!]

 

 

Und an einem ganz bestimmten Punkt in dem Ablauf dieser Ereignisse, als gerade das ungeheuerlichste Verbrechen begangen werden sollte, das man sich überhaupt nur vorstellen kann, da geschah das vollständig Unerwartete für mich:

 

Christus kam zurück. Er erschien in seinem geistigen Leib jedem Menschen zur gleichen Zeit, ohne irgendeine Benutzung von Technik oder ähnlichem: Er war Kraft Seines Willens in jedem Bewusstsein jedes Menschen präsent, vielleicht sogar im Bewusstsein jedes Wesens. Alles Geschehen auf der gesamten Erde kam zum Stillstand. Der Herr schaute Auge in Auge jeden einzelnen Menschen an. Und Er sprach in etwa - dem Sinne nach - diese Worte an jeden einzelnen von uns:

 

„Ich bin der Herr, dein geistiger Vater.

Ich bin gekommen, um Meine Herrschaft auf dieser Erde jetzt anzutreten.

Ich biete dir an, als eines Meiner Kinder in Meinem Königreich zu wohnen.

In Meinem Königreich gilt Mein eines Gebot der Liebe:

‚Ich liebe meinen Nächsten wie mein Selbst und meinen Vater über Alles.’

Ich gebe dir die freie Entscheidung, dieses Gebot der Liebe anzunehmen oder abzulehnen.

Ich vergebe dir die Schuld für jede Tat, die du bisher getan hast.

Du bist jetzt völlig frei von Schuld. Alle Sünden sind dir vergeben.

Aber von jetzt an vergebe Ich dir nicht mehr,

wenn du in Meinem Reich gegen Mein Gebot absichtlich verstößt.

Wenn du dich entscheidest, Mein Gebot der Liebe anzunehmen,

dann biete Ich dir Meinen ewigen Bund an,

dich in deinem Bemühen zu unterstützen, dieses Gebot zu halten.

Wenn du dich entscheidest, Mein Gebot der Liebe nicht anzunehmen,

dann hast du Mein Königreich der Liebe zu verlassen.

Dann wird dir dein neuer Lebensraum zugewiesen,

wo du mit allen denen zusammen sein wirst,

die Mein Gebot gleichfalls nicht angenommen haben.

Ihr habt dann selbst für euch zu sorgen.

Wenn du Mein Gebot annimmst,

dann antworte mit einem laut ausgesprochenen: „Ja!“

Wenn du Mein Gebot nicht annimmst, dann antworte mit: „Nein!“

Oder tue etwas anderes.“

 

Viele antworteten mit einem lauten „Ja!“, einige zögerten, einige sagten: „Nein!“.

Andere wollten von ihrem Plan der Verbrechen nicht ablassen, der gerade an dem Punkt angekommen war, wo die Entscheidung über den Sieg gekommen war: Wenn dieser Mordbefehl ausgeführt ist, dann ist der Krieg gewonnen. Und der Befehlshaber der Seite, die am Gewinnen war, gab den Mordbefehl. Er ging mit Lichtgeschwindigkeit durch die ganze Befehlskette bis zu jedem einzelnen Menschen, der die Hand am Druckpunkt hatte. Und sobald dieser Mensch in sich die Entscheidung getroffen hatte, den Befehl auszuführen, um Menschen zu töten, fiel er tot um, bevor er drücken konnte. Andere verweigerten sich innerlich dem Befehl und sagten stattdessen: „Ja!“

Auch der Befehlshaber fiel tot um.

 

So gab es danach einige Tote. Es fehlten viele spurlos, und zwar die, die sich nicht für „Ja!“ entschieden hatten. Und die Menschen, die einander lieben wollten, waren unter sich: Alle anderen gab es hier nicht mehr.

 

Und so begann die herrliche Zeit für uns, die wir uns alle schon einmal erträumt hatten.

Die ganze lebende Menschheit in Nächstenliebe vereint. Aber sie wurde viel schöner, als irgendein Mensch imstande gewesen wäre, sie sich zu erträumen.

 

Aber über diese Zeit danach habe ich keine Vision gehabt.

Hier endete die Vision, und ich hatte noch genügend Zeit im Ritual, um über sie nachzudenken und meine Lehren daraus zu ziehen.

 

 

So oder so ähnlich spielt sich – meiner Vision entsprechend - das ab, was allgemein unter dem Schlagwort ‚Das Jüngste Gericht’ oder ‚Das Ende der Zeit’ bekannt ist. Mit ‚Zeit’ ist dabei die Ära, das Platonische Jahr oder auch der letzte Monat ‚Fische’ dieses Jahres gemeint, das ‚abgekürzt’ wird um der Gerechten willen. Die Neue Ära beginnt dann mit ihrem ersten Äon des Wassermannzeitalters.

 

Es wird allgemein als etwas Entsetzliches angesehen: Die Menschen, die bösen Willens sind, die ihre Mitmenschen unterdrücken und ausbeuten wollen, werden daran gehindert, ihre Pläne hier zu verwirklichen. Für die bösen Menschen ist dies der Größtmögliche Unfall, der ‚GU’, der nicht einmal mehr als ‚GAU’ ‚Anzunehmen’ ist, weil er nach der bisherigen Erfahrung ausgeschlossen werden kann. So etwas hat es noch nie gegeben. Und selbst als Jesus Christus gekreuzigt wurde, wurde Er gekreuzigt – und nichts weiter.

 

Es ist das Schönste, was uns Menschen überhaupt nur geschehen könnte. Es ist so schön, dass ich es als phantastische Spinnerei von grauen Kirchenmäusen abgetan hätte, wenn es mir nicht selbst so von Ihm gezeigt worden wäre und wenn es nicht so stimmig wäre.

 

Es ist der Sieg der Gerechtigkeit, der Friede des Siegs, der Siegfriede. Und die Gerechtigkeit ist gerecht. Jeder bekommt, was ihm am meisten nützt. Die Menschen, die guten Willens sind, dürfen im Reiche des Herrn leben, denn sie haben die Reife dafür erlangt, um sich jetzt schneller zu entwickeln.

 

Alle anderen bleiben unter sich, wo sie das Reich des Schreckens und der Unterdrückung vollendet ausbauen dürfen. Und alle, die bei ihnen sind, sind damit einverstanden, das miterleben zu wollen. Jeder erhält das, wofür er sich frei entschieden hat.

 

Der Teil der ‚Erde’, der den Menschen, die bösen Willens sind, zugeteilt ist, ist vollständig getrennt vom Reiche des Herrn. Wie eine solche Trennung geschehen kann, darüber habe ich theoretische Kenntnis: Die Trennung ist eine energetische ‚Barriere der Wahrnehmung’. Sie funktioniert genau so, wie für viele Menschen heute die geistige Welt nicht wahrnehmbar ist: Sie sind von ihr durch eine Barriere getrennt, die nur überwunden werden kann, wenn diese Menschen genug Energie angesammelt haben. Es gibt Methoden, solche Barrieren zu überwinden. Aber diese spezielle Barriere ist durch den Willen des Herrn unüberwindbar gemacht.

 

Bei der Selbstzerfleischung derjenigen, die in dem abgeteilten Bereich leben, wird wohl keiner an Energie zunehmen. Sie werden die Erfahrungen machen, die sie nötig haben. Sie werden sie in ihrer Gänze erleben. Nach langen Zeiträumen des Elends, des Folterns, des Mordens, des sich gegenseitig Zerfleischens aus Gier nach Macht werden einige anfangen, sich nach einer besseren Welt zu sehnen. Und ‚nach Tausend Jahren’ wird ihnen noch einmal die Chance gegeben, sich erneut frei zu entscheiden. (Apokalypse des Johannis)

 

Diese Abtrennung der zwei Lebenssphären der Menschen gilt übrigens auch für die Reinkarnationen: Wer in dem abgeteilten Bereich stirbt, wird auch dort wieder neu inkarnieren, denn er hat dort weiter zu lernen. Im Reiche des Herrn gilt sie natürlich genau so. (‚Ich richte die Lebenden und die Toten.’)

 

Dass wir, die wir uns für ein Leben in Liebe entschieden haben, von diesem Schreckensreich verschont bleiben werden, das liegt nur an der Liebe des Vaters, der der ‚wenigen Gerechten wegen’ schon so bald eingreifen wird. Diese jetzige Zeit direkt davor heißt auch ‚der große Fischzug’, in dem durch Leid auch viele der Menschen geistig aufwachen müssen, die es gar nicht wollen. Nur eigenes Leid hat dann die Kraft, diese Menschen zu erwecken.

 

Die Verschonung vom Schreckensreich geschieht aus dem Grunde, weil die Entwicklung der Menschheit, die die Reife der Entscheidungsfreiheit erlangt hat, schneller erfolgen wird, als wenn wir noch über Hundert Jahre damit hätten warten müssen. Die Gräuel, die in dieser endlos langen Zeit von über vier Generationen an uns begangen worden wären, brauchen wir nicht mehr zu erdulden, denn das, was wir daraus lernen könnten, lernen wir so auf die Art der Liebe – ohne Leid. Wir brauchen nicht die Zerstörung der Lebensgrundlagen dieser Erde zu erdulden.

 

Im Laufe meiner Arbeiten mit Santo Daime erfuhr ich, dass der kosmische Christus in Seiner jetzigen Mission Seiner zweiten Wiederkehr einen neuen Namen angenommen hat, der der Funktion Seiner neuen Mission entspricht.

 

Sein Name lautet J-U-R-A-M-I-D-A-M.

 

Dieser Name besteht aus zwei Teilen: ‚Jura’, der Schwur und ‚Midam’ in der Bedeutung von ‚mir gibt’: Er gibt mir Seinen Schwur des ewigen Bündnisses, wenn ich mit „JA!“ antworte. Jura ist dabei der Namensteil, der Christus zugeordnet ist und Midam ist der Teil, der allen Seinen Kindern in ihrer Gesamtheit zugeordnet ist: ‚Der Herr und wir’ als eine neue Einheit. ‚Midam’ entspricht dabei dem früheren ‚Adam’ im Sinne von ‚Mensch’, (vergleiche ‚Ad-Am’, ‚zur Seele’ oder ‚da: Seele’, mit ‚amare’, lateinisch, ‚lieben’, der Tat der Seele und ‚l’âme’, französisch, ‚Seele’).

 

Wann wird dieses Gericht stattfinden? Bei dem Zeitablauf habe ich keine Jahreszahlen gesehen. Der genaue Zeitpunkt ist nur Ihm Selbst bekannt.

Aus anderen Prophezeiungen weiß ich aber Verschiedenes: Nach Jakob Lorber (1800-64) hat Jesus in Seinem ersten Lehrjahr prophezeit, dass Er ‚in Tausend und nicht noch einmal Tausend Jahren wiederkommen’ würde. Das ist also spätestens im Jahr 2023, falls Christus um 7 v. Chr. geboren wurde und falls Er mit 30 Jahren Sein Lehramt antrat.

 

Die "Fama" wurde 1615 veröffentlicht, das ist 10 x40 Jahre vor 2015.

 

Nach dem Maya-Wissen wird diese große Veränderung um 2012 eintreten mit einer Toleranz von etwa ±5 Jahren. Es wird kein festgelegtes Kalenderdatum sein, sondern, wie ich es gesehen habe, wird die Entwicklung des Geschehens den Anlass oder das Omen geben für das Eingreifen des Herrn.

 

Denn Christus hat gesagt: “Ich komme wie ein Dieb in der Nacht.“ Was würde Ihn hindern, davor zu kommen, wenn die Zeit schon davor reif geworden ist? Ein Kalenderdatum? Oder wenn die Zeit erst danach reif ist, muss Er dann früher eingreifen, weil das Datum festgelegt ist? - Das bedeutet für mich: Ich mache mich bereit und bin wachsam.

 

Eine Schwierigkeit bei allen Prophezeiungen ist, dass die Zukunft nicht festliegt, sondern sie hat viele Möglichkeiten der Entwicklung, denn der Mensch hat die freie Entscheidung darüber in sich. Die Entscheidung erfolgt immer nur für die Möglichkeiten, die als ‚Möglichkeit’ erkannt wurden. Nur innerhalb der Schranken dieser Erkenntnis herrscht die Entscheidungsfreiheit.

 

Falls sich zum Beispiel jeder Mensch jetzt freiwillig für die Beachtung des Liebegebotes entscheiden würde, dann wäre schon jetzt alles anders.

 

 

14.   Die Elemente des Rituals

 

Die Rituale, die ich in Mapiá erlebte, haben eine optimale Form. Ich beschreibe im Folgenden einige der Elemente, mit denen sie ihre Wirkung entfalten.

 

Diese Elemente sind nicht willkürlich. Die Form des Rituals wurde dem Öffner dieser Linie Raymundo Irineu Serra geistig übermittelt, genauso wie die Hinos, die er empfangen hat.

 

Jedes Ritual beginnt und endet mit einem Gebet, das aus drei ‚Vater Unser’ und drei ‚Ave Maria’ besteht (und einigen weiteren Gebeten). Damit ist die Zeitspanne dazwischen, das eigentliche Ritual, offen für den Meister des Rituals, damit Er Seine Lehren erteilen kann.

 

Danach werden einige ‚Daime-Hinos’ gesungen, das sind Hinos, in denen speziell das Sakrament besungen wird.

 

Danach und währenddessen wird der Daime ausgeschenkt. Jeder Teilnehmer am Ritual bekommt eine Dosis Daime. Die Dauer bis zum Beginn der Wirkung ist je nach Höhe der Dosis zwischen 25 und 45 Minuten. Es gibt Anfänger, die überhaupt keine Wirkung verspüren. Das gibt sich aber spätestens nach einigen Ritualen.

 

Bei den Ritualen der ‚Concentração’ und der ‚Cura’ wird danach das Hinario ‚Oração’ gesungen, das etwa 40 Minuten dauert. Diese beiden Rituale werden im Sitzen durchgeführt.

 

Die Mitte des Raums bildet der Tisch, der in Mapiá die Form eines sechsstrahligen Sterns hat.

 

Auf ihm ist in der Mitte das Kreuz von Caravaca mit den zwei Querbalken aufgestellt als Symbol für den Meister, gerichtet nach ‚Osten’ zum Platz des Comandante an der Stirnseite.

 

In Mapiá habe ich nur erfahren können, dass diese Form des Kreuzes ‚Caravaca’-Kreuz heißt, mehr nicht. –

Das Kreuz von Caravaca [2] , auch Spanisches Kreuz genannt, ist ein besonderes und legendäres Doppelkreuz (lat. Crux Gemina, auch: Zwillingskreuz, Kardinalskreuz, Patriarchenkreuz, Lothringerkreuz, Engelskreuz, Jerusalemer Kreuz, Ungarkreuz, Wiener Kreuz, etc.).

Das "Wunder von Caravaca" (Andalusien) soll darin bestanden haben: Als ein christlicher Priester vor dem Maurenkönig Zeit-Abu-Zeit auf dessen Wunsch am 3. Mai 1232 in dessen Palast eine christliche Messe zelebrierte, musste er feststellen, dass der Bote, der ihm die nötigen Messutensilien gebracht hatte, sein Kreuz vergessen hatte. Er befand sich deshalb in schweren Nöten. Er gestand sein Malheur dem Araberfürsten, und der meinte dann sinngemäß: "Meinst Du so ein Kreuz, wie es die zwei Engel gerade auf den Altar gelegt haben?" Der Gottesdiener hatte 'Hilfe von oben' erhalten, zwei Himmelsboten hatten das später so genannte "Kreuz von Caravaca" gebracht.

Zeit-Abu-Zeit war so beeindruckt, daß er zum Christentum konvertierte und zu Afonso X. "El Sabio" wurde (dt. Alfons X. "Der Weise"). Der Ort des Geschehens wurde in Caravaca de la Cruz (Caravaca vom Kreuz) umbenannt...

 

An der Westseite des Kreuzes sind Blumen aufgestellt als Symbol der jungfräulichen Mutter Natur, Natura naturans, Mutter Erde, Pachamama, Gaia, Rainha da Floresta, die Königin des Waldes, Mutter Maria. Der Tisch mit weißer Tischdecke ist mit Kerzen geschmückt und Weihrauch brennt. Auch unter dem Tisch brennt eine Kerze, und ein Weihrauchstäbchen räuchert dort ‚für die Geister, die das direkte Licht scheuen’.

 

Um den Tisch in Reihen hintereinander sind die Plätze links vom Comandante für die Männer und rechts vom Comandante für die Frauen. Alle sitzen oder stehen genau in Reih und Glied genau so weit auseinander, dass keiner den anderen berührt, aber auch nicht weiter, so dass ein dichtes Energiefeld entsteht. Die ersten Reihen am Tisch sind für die erfahreneren Fardados, die äußeren Reihen für die Gäste vorgesehen. Jede Reihe wird an der Stirnseite von einem Fardado angeführt.

 

Jeweils mindestens ein Fardado ist zur Organisation der Männerseite, eine weibliche Fardada für die Frauenseite vorgesehen als sogenannter ‚Fiscal’, ‚Aufseher’. Sie überwachen die Sitzordnung, sorgen für Trinkwasser, halten Eimer bereit, wenn jemand sich übergeben muss, sorgen für die äußere Ordnung im Ritual.

 

Eine ‚Puxadora’ oder ‚Vorsängerin’ stimmt die Hinos an. Sie sitzt als erste Frau an der Frauenseite neben dem Comandante. Wenn es Gitarristen oder andere Musiker gibt, so sitzen sie auch in der ersten Reihe direkt am Tisch.

Wenn nach dem Daime-Ausschank Ruhe eingekehrt ist, beginnt aus der Ruhe heraus das erste Hino von der Puxadora angestimmt. Sie singt die erste Strophe einmal. Bei der Wiederholung setzen alle mit ein.

 

Jedes Hino besteht aus mehreren Strophen, die alle die gleiche Melodie haben und die jeweils wiederholt werden. Die Art der Wiederholung ist vom speziellen Hino abhängig.

Die Hinos haben als ihre Elemente die Melodie, den Rhythmus, die Wiederholung, die Klangfarbe und den Text.

 

Die Melodien sind einfach. Wenn man ein neues Hino das erste Mal hört, kann man es im Normalfall bereits ab der dritten Strophe mitsingen.

Manche Melodien klingen europäisch, manche sind sehr merkwürdig, fremdartig. Die Strophen sind normalerweise vierzeilig. Dabei werden häufig die ersten zwei Zeilen mit einer aktivierenden Melodie gesungen, die zweiten zwei mit einer dazu ausklingenden Melodie, manchmal auch umgekehrt. Die Melodien sind jeweils fein auf den Text abgestimmt. Die Variationen gehen ins Unendliche.

Es gibt kraftvolle ‚Krieger-Gesänge’, es gibt zarteste, ruhige Hinos, es gibt jubelnde, sprühende Hinos, es gibt verhaltene, stillere Lieder.

 

Die meisten Hinos sind im Vier-Viertel-Takt, im ‚Marsch’. Etwa jedes zehnte Hino – aber ohne Regel - ist im Drei-Viertel-Takt, dem ‚Walzer’. Und seltener gibt es Hinos im Sechs-Achtel-Takt, der ‚Mazurka’.

 

In der Klangfarbe der Hinos steckt von allen Elementen die meiste Kraft. Zu jedem Hino gibt es eine sehr genaue Art, wie es gesungen wird. Sie wird mündlich tradiert von dem ersten Menschen, der das Hino empfangen hat bis zu allen, die das Hino jetzt singen.

Die Art, wie ein Hino gesungen wird, welche Spannung im Kehlkopf herrscht, wie stark der Atemdruck ist, die Sanftheit oder Kraft der Intonation, die Weichheit, der gesamte Ausdruck ist bei allen Sängern völlig gleichartig. Ein Merkmal der Klangfarbe ist immer die völlige Natürlichkeit der Stimme.

Es gibt also keine ‚besonderen’ Klangfarben, wie zum Beispiel die ‚klassische abendländische Opernstimme’ oder die ‚Country and Western’-Stimme oder ähnliche stilisierte Klangfarben.

Die Klangfarbe formt beim natürlichen Singen die Gefühle und Stimmungen, die mit dem Hino verbunden sind. Diese Stimmungen übermitteln sich beim Singen sofort auf die Sänger, und zwar auf jeden ohne Unterschied. Das ist ein faszinierendes Phänomen.

Wenn ich auf Daime diese Hinos singe, dann sind die Kehlkopfbewegungen und die Atembewegungen der Lunge meine einzigen Körperbewegungen. Dazu kommt die Vibration, die in meinem Körper durch die Töne mit ihren Obertönen, durch die Klänge also, hervorgerufen werden.

 

Es ist Aufgabe aller Sänger, die Hinos makellos zu singen, also ganz präzise genau so, wie sie gesungen werden sollen, genauso wie sie empfangen wurden. Dadurch, dass alle Sänger sie gleichartig intonieren, entsteht ein gemeinsames Klangfeld, an das jeder sich dadurch anschließen kann, dass er auch so präzise intoniert. Dann vibriert die eine gemeinsame Vibration sowohl außen als auch innen im Körper.

 

Die Hinos haben Melodien, die an verschiedenen Stellen des Körpers ihre Hauptresonanzen entfalten. Manche Hinos vibrieren hauptsächlich am Brustbein in der Mitte der Vorderseite des Körpers. Andere vibrieren im und um den Kehlkopf herum, andere vibrieren im Rachenraum oder oberhalb des Gaumens, und oft ziehen die Melodien Spuren durch den Körper entlang dieser Bereiche, die sehr eigenartige psychische Veränderungen zur Folge haben.

 

Die psychischen Spuren der Melodien gehen manchmal von ganz tief bis zu den allergrößten Höhen, die Spannung des Kehlkopfes geht von ganz locker zu extrem fest gespannt. Ich fühle die Melodien dann durch meinen Körper vibrieren und ihn ganz speziell aktivieren. Dieses ‚Spurenbild im Körper’ ist das psychische Bild der Melodie.

 

Das gemeinsame Klangfeld aller, die gleich singen, ist eine außerordentlich wirksame Kraftquelle. Es ist ein gemeinsamer energetischer Pool, in den jeder hineingibt und aus dem jeder herausholt, was er gerade braucht, um vollständig zu sein. Über diesen Pool sind alle miteinander verbunden.

Jeder Sänger wird sagen, das sei bei jedem Singen so. Das mag sein. In diesem psychischen Zustand, der durch Daime hervorgerufen wird, ist die Empfänglichkeit dafür und auch für die feinsten Oberschwingungen und die darüber liegenden psychischen Feinheiten wesentlich größer, und über diese Feinheiten erfolgt die Feinausrichtung der Position des Montagepunkts. Dieses Klangfeld bildet eine energetische Trägersubstanz, in der der Sänger an der allgemeinen, gleichen Gesamtschwingung teilnimmt.

 

Der Atemrhythmus beim Singen ist sehr eigenartig. Der Text geht praktisch pausenlos vom Beginn der ersten Strophe bis zum Schluss der letzten. Häufig ist dabei eine Viertel-Note Pause nach dem Ende von zwei Zeilen. In dieser Viertel-Note erfolgt das sehr schnelle Einatmen bis zur Halbfüllung der Lunge. Anschließend erfolgt das langsame und gleichmäßige Ausatmen beim Singen über im Normalfall 16-Viertel-Noten. Diese Atemtechnik wird dabei über Stunden beibehalten, am Ende der Hinos, alle etwa vier Minuten durch eine kurze Pause unterbrochen.

 

Auf dieser Basis werden die Texte der Hinos ausgesprochen. Die Texte der Hinos enthalten die ‚Doktrin’, das ‚Lehrgebäude’. Sie sind die einzige Lehre, die in den Ritualen ‚äußerlich’ dem Teilnehmer vermittelt wird. Die Texte sind Brasilianisch-Portugiesisch, mit Ausnahme von den Hinos, die in anderen Sprachen empfangen wurden. Die Hauptmasse aller Hinos ist in Portugiesisch. Diese Hinos müssen auch auf Portugiesisch gesungen werden. An eine Übersetzung ist überhaupt nicht zu denken. Die Texte bilden mit der Melodie eine solch kompakte, in sich stimmige Einheit, dass jede kleinste Veränderung die Harmonie beeinträchtigen würde. Jeder einzelne Vokal jeder Silbe hat seine Funktion im Gesamtzusammenhang.

Ausländer können sich also privat die Texte in ihre Sprache übersetzen. Für manche Hinarios gibt es inzwischen englische Übersetzungen, die auf den geraden Seiten der Gesangsbücher stehen, auf den ungeraden stehen dann die Originaltexte. Aber gesungen werden die Hinos nur in ihrer Originalsprache, in der sie empfangen wurden.

 

Bei getanzten Hinarios haben viele Fardados sogenannte ‚Maracas’ in ihrer Hand, das sind geschlossene Blechzylinder mit harten Körnern gefüllt, die an einem Griff gehalten werden und die bei den ganz speziellen Hand- und Armbewegungen ein charakteristisches lautes Zisch-Geräusch machen. Die Hinarios werden praktisch alle mit diesem rhythmisch betonten Klang angestimmt. Wenn bei großen Hinarios etwa 150 Maracas überall im Raum verteilt so klingen, als würde nur eine einzige Maraca angeschlagen, die aber dreidimensional ist, dann ist das beeindruckend. Mit der Maraca wird ein weiteres Element der Makellosigkeit dem Ritual hinzugefügt.

Die Maracas geben beim Erleben eines Rituals Kraft und Feuer dazu. Die Maraca ist das geistige Schwert des Daimistas. Die hohe Klangfarbe und die große Dreidimensionalität und der betonte Rhythmus sind wie ein psychisch scharfes Gewürz, das die Hinos ‚aufpeppt’. Die Hauptfrequenz dieses Zischens liegt in der Gegend von 7.000 Hertz, darüber liegen die Oberschwingungen.

Über Tonaufnahmen allerdings ist dies Erlebnis nicht zu vermitteln. Dabei stören die Maracas, denn ihre Lautstärke ist im Normalfall um +10 db lauter als die der Stimmen. Und wer die Texte der Hinos lernen möchte, sollte das mit Aufnahmen ohne Maracas machen.

 

Bei den ‚Hinarios’, die getanzt werden, gibt es drei unterschiedliche Tanzschritte, die alle drei sehr einfach und effektiv sind. Beim Tanzen hat jeder Teilnehmer einen eigenen Bereich von etwa 60 cm Breite und 50 cm Tiefe, innerhalb dessen er tanzt. Jeder Tanz beginnt aus einer Grundposition mit dem linken Fuß. Der Tanz beginnt bei Beginn der ersten Wiederholung der ersten Strophe. Davor steht man im Normalfall still.

 

Beim Marsch mit vier Viertel-Takten stehe ich in der der Grundposition gerade nach vorn.

Beim ersten Takt der ersten Wiederholung beginnt der Tanz:

1. Takt: Der linke Fuß geht einen Schritt unter 45° nach links vor.

2. Takt: Der rechte Fuß geht auch unter 45° einen Schritt vor den linken Fuß.

3. Takt: Der linke Fuß setzt gerade nach vorn auf.

4. Im vierten Viertel-Takt dreht sich der ganze Körper auf dem linken Fuß von 45° nach links zu 45° nach rechts.

Dann geht der rechte Fuß unter 45° einen Schritt nach rechts (1), der linke folgt unter 45° nach rechts (2), der rechte setzt gerade auf (3), es folgt eine Körperdrehung um 90° nach links (4). – Wiederholung -

In zwei Takten wird ein symmetrischer Tanz aus zweimal drei Schritten getanzt. Dabei geht der Körper um 90° zur Grundposition nach links und nach rechts.

 

Dieser Tanz ist der Haupttanz, in dem alle Hinarios getanzt werden. Er heißt auch ‚Das Kneten der Energie’. Alle um den Tisch Versammelten tanzen gleichzeitig von sich aus nach links und nach rechts. So entsteht eine gleichmäßige hin- und herdrehende Bewegung um das Zentrum herum. Wer in diesem dichten Energiefeld mittanzt, merkt sehr deutlich, wie seine Energie mit der seiner Nachbarn links, rechts, vorn und hinten verschmilzt. Jeder stützt jeden. Es ist äußerst schwierig, bei einem solchen Tanz nicht mitzutanzen. Jeder wird einfach durch die Bewegung der anderen mitgezogen.

Wer so etwa eine Stunde getanzt hat, dem wird schön warm. Der ganze Körper wird auf eine leichte und angenehme Art gefordert. Alle Muskeln werden bewegt, nichts wird überanstrengt. Der Tanz hält jugendlich und frisch. Er gibt Bewegungsenergie in die Meditation der Arbeit hinein. Es ist - neben Tensegrity - die angenehmste Art des körperlichen ‚Fitness’-Trainings, die ich kenne. Schon allein dieses Tanzen fördert die Gesundheit.

Besonders für Anfänger ist es allerdings nicht leicht, so zu tanzen, ihr Textbuch in der Hand zu halten und dann noch auf portugiesisch zu singen, während sie in gesteigerter Bewusstheit sind. Volle Konzentration ist dabei gefordert.

 

Der zweite der Tänze ist der Walzer.

Dabei bleiben die Füße stehen und der Körper wiegt sich hin und her. Die effektivste Art dieser Bewegung ist für mich die folgende:

Die Füße stehen schulterbreit, die Fußspitzen leicht nach außen, die Knie gebeugt. Der ganze Körper oberhalb der Hüfte dreht sich auf der Hüfte um 45° nach links und bewegt sich dann mit der Bewegung der Knie nach links. Am linken Anschlag erfolgt eine Rechtsdrehung des gesamten Körpers auf der Hüfte nach rechts und Bewegung mit den Knien nach rechts bis zum Anschlag. – Wiederholung. –

Zusätzlich zu dieser Grundbewegung kann die eigentliche Oberschwingung mit den Schultern erfolgen. Sie drehen sich jedes Mal mit schnellem Schwung so nach vorn, als wollten sie einen senkrechten Luftwirbel von etwa 10 Zentimetern Durchmesser erzeugen, an der linken Seite mit der linken Schulter, an der rechten Seite mit der rechten Schulter.

Dazu kann ich mir vorstellen, dass ich an meinen Schultern Engelsflügel - oder sich drehende Energiesäulen - habe, mit denen ich diese Bewegung zugleich auch bis oberhalb meines Kopfes ausführe.

Der Kopf unterstützt diese Bewegung mit einem leichten Schwung des Kinns.

Die Grundenergie, aus der die Bewegung entsteht, ist der Schwung der Hüfte.

Diese Bewegung ist sehr wohltuend und gemütlich und stellt eine Ruhepause für den Krieger dar, der eine ganze Weile lang die Energie geknetet hat.

Die Melodien dieser Walzer sind oft auch richtig einschmeichelnd, lieblich, zart, und bilden so ein polares Element zu dem eher kräftig-fordernden Marsch.

 

Der dritte Tanz ist die Mazurka mit dem Sechs-Achtel-Takt. Der Tanz besteht in einer 180°-Drehung des Körpers in vier Schritten zu den ersten vier der sechs Achtel-Takte. Alle Tänze beginnen nach links. So stelle ich mich zum Beginn mit dem Körper um 90° nach rechts von der Grundposition (sie ist: ‚gerade nach vorn’) auf. Dabei steht der linke Fuß um 45° nach links von meinem Körper und der rechte Fuß um 45° nach rechts. Dieser rechte Fuß ist aber nur an der Ferse auf dem Boden. Das rechte Bein ist gestreckt, die Fußspitze ist angehoben. Der Spann ist angespannt.

1. Takt: Der rechte Fuß stellt sich parallel zum linken Fuß, er dreht sich also um 90° aus seiner Position nach links.

2. Takt: Der linke Fuß stellt sich um 45° links von der Mitte auf. Er dreht sich also auch um 90° nach links.

3. Takt: Der rechte Fuß stellt sich parallel zum linken, auch um 90° nach links gedreht.

4. Takt: Der linke Fuß stellt sich um 90° nach links mit der Ferse am gestreckten Bein auf.

Ich stehe damit mit dem Rücken zur Ausgangsposition, der Körper steht ‚spiegelbildlich’.

5. und 6. Takt: Ich bleibe in dieser Position.

Bei den nächsten 6 Achteltakten mache ich diese Schritte umgekehrt.

 

Wenn ich so tanze, dann ‚fliegt’ die Welt schnell um mich herum, kommt zum Halt, so dass ich sie mir anschauen kann, und dann ‚fliegt’ sie wieder um mich herum, und ich kann sie wieder anschauen. Ich schaue dabei genau die Dinge an, die sonst im Ritual am Rande meiner Augen sind. Meinen Nachbarn zur Linken und zur Rechten sehe ich jeweils von hinten. Es ist fordernd, diese Drehung in gesteigerter Bewusstheit zu machen. Ich persönlich schaffe es selten, dabei in das Buch zu schauen und dann noch zu singen. Diese Mazurka-Hinos sind für mich die unbekanntesten eines Hinarios. Sie sind oft auch die höchst-energetischen.

 

Die Ritualkleidung besteht aus der Farda für die Fardados und die Fardadas und besteht ganz aus weißer Kleidung für die Nicht-Fardados. ‚Farda’ heißt ‚Uniform’, Fardados sind die Uniformierten. Fardada ist die weibliche Form des Fardados.

Die Farda der Männer besteht aus marineblauer Hose, weißem, langärmeligen Hemd und marineblauem Schlips. Die Art der Schuhe ist freigestellt. Die meisten tragen Sportschuhe, um gut tanzen zu können. Das bequeme, federnde Schuhwerk ist für längere Hinarios von 8 bis 13 Stunden sehr wichtig.

Die Farda der Fardadas ist ein marineblauer Faltenrock mit etwa 4 cm breiten Falten, ein weißes langärmeliges Hemd und eine marineblaue Fliege. Die Haare werden offen getragen.

Das Zeichen der Fardados, das beim Eintritt in die Bruderschaft rituell verliehen wird, ist ein Sechseckstern, der an die rechte Brust geheftet wird. Den Stern gibt es in verschiedenen Ausführungen.

Bei meinem Stern aus geprägtem Messing ist im Inneren der zwei verschlungenen Dreiecke eine Mondsichel als Schale, aus der sich ein mächtiger Adler mit geweiteten Flügeln majestätisch erhebt. Dieses Symbol verstehe ich so: Der Adler hat die Schale der Bewusstheit der Mutter gefüllt – der Kosmos ist erschaffen. Das zweifache Gesetz des Dreiecks lässt die geistigen und die materiellen Manifestationen geschehen: So schließt sich der Himmel auf.

Die Fardadas tragen diesen Stern an ihrer linken Brust. Auf ihrer Rechten tragen sie das Zeichen ‚C. R. F.’.

Zu besonderen Festtagen einige Male im Jahr wird die weiße Farda getragen. Die Fardados tragen eine weiße Hose. An ihren äußeren Seitennähten können grüne Längsstreifen aufgenäht werden. Zum weißen Hemd mit blauem Schlips wird eine weiße Jacke getragen. Die Fardadas tragen einen weißen Faltenrock und eine grüne Schärpe. An ihren Schultern sind farbige Bänder angenäht, deren Farben persönlich sind. Auf ihrem Haupt mit offenen Haaren tragen sie eine glitzernde Krone.

 

Dieses Alles ist der Rahmen des Rituals, in den der Körper eingebettet ist, in dem er sich wohlfühlt, in dem er tanzt und singt. Wir tanzen und singen zu Hinos, die als ihr normales Grundelement die Stimmung der Lebensfreude vermitteln.

Es sind ‚geistige’ Lieder, aber nicht zu vergleichen mit irgendeiner mir bisher bekannten Art geistiger Gesänge oder Musik. Dies ist der Gesang, wie er in den Himmeln gesungen wird. Diese Gesänge kommen aus den Himmeln und sind dort geschaffen worden von Wesen, die sie den menschlichen Empfängern als Teil ihrer Lehren übermitteln.

 

Wir tanzen um das Zentrum des Kosmos herum. Dieses Zentrum ist Jesus Christus, der Meister. Er ist materiell im Kreuz anwesend, solange das Ritual dauert. Er ist geistig anwesend in welcher Art und Weise auch immer, wie Er es beschließt. Wir freuen uns, um Ihn herum tanzen zu können. Und Er lässt uns um Sich herum tanzen, damit wir in der Stimmung der Lebensfreude sind.

 

Denn in dieser Stimmung lassen sich Seine Lehren am besten vermitteln. Und Er lehrt jeden Einzelnen gleichzeitig und gibt jedem Einzelnen seine persönlichen, für ihn genau passenden Lehren.

Diese Lehren sind nicht immer angenehm, sondern sie können auch sehr schmerzhaft sein. Denn sie bewirken eine Verbesserung des Lebens. Und die Mittel, die dazu gebraucht werden, stellt Er bereit.

Deshalb heißen diese Rituale ‚Trabalhos’ oder ‚Arbeiten’. Es ist häufig jubelnde, aber immer lohnende Arbeit.

 

 

15.  „Viva a Santa Alegría!“

 

Bei einem Hinario, das wir etwa im Sommer 1996 in Hamburg durchführten, ist mir etwas Eigenartiges passiert:

 

Ein erfahrener brasilianischer Comandante war nach Hamburg zu Besuch gekommen, und wir sangen sein eigenes Hinario.

 

Alles lief ‚normal’, ich war als erster Fardado in der zweiten Reihe. Weil das Hinario für uns alle neu war, tanzten wir es nicht, sondern wir standen nur und sangen.

 

Ab und zu unterbrach der Comandante kurz den Fortgang, weil wir in unserer noch sehr jungen Gruppe Verschiedenes noch nicht richtig machten. Er zeigte uns die richtige Atemtechnik beim Singen der Hinos und verschiedene andere Dinge.

 

Und als ein neues Hino begann, merkte ich plötzlich, wie ich begeistert war: Lebensfreude durchströmte mich. Das Leben war unbeschreiblich schön. Ein richtiger Taumel der Freude durchbebte mich. Was für ein wunderschönes Hino. Welch eine Freude, in diesem Zustand mit diesen Menschen an diesem göttlichen Ereignis teilzunehmen. Ich war verblüfft. Was war da mit mir los. Ich hatte eine solche Freude in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt. Ich sah mir dabei zu, wie ich durchglüht war von einem unbeschreiblichen Gefühl von einer solchen Intensität, dass es unglaublich war. Dieses Gefühl hatte keinen Grund. Es war von sich aus da.

 

Es war die natürlichste Sache der Welt, von Lebensfreude erfüllt zu sein. War es nicht unbeschreiblich schön, jetzt noch nicht tot in der Erde zu liegen, sondern hier auf der Erde diese Wunder der Schöpfung in einem gesunden Körper erleben zu können?

 

Ich merkte auch, dass es der Comandante war, der mir dieses Gefühl gab. Er stand etwa einen Meter und fünfzig vor mir, sah mich nicht an und war voll auf das Hino konzentriert. Trotzdem war ein Gefühl in mir, das mir sagte, ‚er’ löst das in mir aus.

 

Dieses Lustgefühl, so dachte ich, das erfüllt mich ab jetzt mein ganzes Leben – wie herrlich. Wieso kenne ich das denn nicht? - Ich hab zwar viel gelacht, Späße gemacht, hatte sehr viele sehr schöne Zeiten in meinem Leben, war frisch verliebt, alles, was man sich nur vorstellen kann – aber dies, das hatte ich so herrlich noch nie erlebt.

 

Und als das Hino vorbei war – zack! – war auch dieses Gefühl vorbei. Alles war wieder wie vorher, schön und toll, aber nicht so außerirdisch, majestätisch überglücklich, von ausstrahlender Herrlichkeit umgeben.

 

Ich konnte mich zum Glück noch erinnern, wie es war und konnte mich wieder in diesen Zustand zurückversetzen. Aber es kostete mich Anstrengung. Ich musste es jetzt selbst machen. Und so arbeitete ich bei jedem Hino weiter daran, mir diesen Zustand einzuprägen, wie er sich anfühlt, damit er Teil meines alltäglichen Lebens werden kann.

 

Immer wieder vergaß ich es. Dann war ich in meinem Normalzustand, den ich sehr schätze: Ruhig, nachdenklich, beobachtend, analysierend, Distanz wahrend und rational, kühl, ein Wissenschaftler eben, der verstehen will, was um ihn herum los ist. Das ist die ‚Position der reinen Vernunft’.

 

Wenn ich die Lebensfreude in mir spürte, konnte ich auch genauso sein, aber zusätzlich war ich überglücklich dabei. Es gab dann auch nicht den Ansatz von Stirnfalten der Nachdenklichkeit, sondern die Haut meines Gesichts war straff und meine Augen strahlten leuchtend und diejenigen Muskeln meiner Wangen, die sich beim Lächeln anspannen, vibrierten leicht.

 

Während des Hinarios werden alle etwa 10 Hinos die „Vivas“ ausgebracht: „Es lebe!“. Eines der Vivas, die während eines Hinarios, wenn überhaupt, dann meistens nur einmal kommen, ist das „Viva a Santa Alegría!“ – „Viva!“ –

„Es lebe die heilige Lebensfreude!“ – „Sie lebe!“

Da verstand ich das erste Mal, was damit gemeint war.

 

Ich wanderte in diesem Hinario zwischen meinem Normalzustand und dem der Lebensfreude hin und her. Immer wieder vergaß ich diesen Zustand für längere Zeit, weil er so ungewöhnlich war. Wie kann man sich daran erinnern, glücklich sein zu wollen, wenn man ist, wie man ist? – Ja, wie denn nur? - Das ist die eigentliche große Schwierigkeit dabei.

 

Das ist das Gleiche wie mit dem gesteigerten Bewusstsein bei der ersten Erinnerung meines Lebens. Ich brauchte wohl etwa 26 Jahre, bis mir der ‚Zufall’ half, diesen Zustand, diese Position wiederzufinden und für mich neu zu entdecken in der Camera silens. Danach vergaß ich sie wieder.

 

Daraufhin wurde für mich eine Zeile wichtig, die ich in verschiedenen Hinos wiederfand:

„Que não me esquece“ – „Dass ich es nur nicht vergesse!“

 

Carlos Castaneda schreibt dazu (in CC6): Die Schwierigkeit ist die des sich wieder Erinnerns.

„Was habe ich vergessen? – Was war das nur?“ – Wenn ich so weit bin, dass ich merke, ich habe etwas vergessen, dann bin ich schon weit. Meistens bleibt keine Spur davon übrig.

 

Ich hatte natürlich gemerkt, dass ‚die Lebensfreude’ eine Position des Montagepunkts war, die mir neu gezeigt worden war, die offenbar so hochenergetisch war, dass ich sie, ohne sie beabsichtigt zu haben, noch nie durch ‚Zufall’ erreicht hatte.

 

Doch, vielleicht als kleines Kind einmal. Da hatte mich mein Vater auf seine Oberschenkel gesetzt und sang und spielte mit mir

„Hoppe, Hoppe, Reiter,

wenn er fällt, dann schreit er.

Fällt er in den Graben,

fressen ihn die Raben.

Fällt er in denSumpf,

macht der Reiter – P-l-u-u-u-m-p-s!“

Er zuckelte dabei im Sitzen auf seinen Zehenspitzen rauf und runter und hielt mich dabei mit seinen Händen an meinen Händen fest. Und beim P-l-u-u-u-m-p-s! gaben seine Hände nach, und ich fiel nach hinten über in den Abgrund hinter mir. Und mein Vater hielt mich und strahlte mir lachend ins Gesicht.

Das konnte ich in die Endlosigkeit hinein genießen. Zu wissen, dass ich gleich fallen werde und dass mein Papa mich hält, so dass ich nicht falle – das war herrlich! Da strahlte wohl auch dieselbe Glückseligkeit aus meinen Augen meinen lieben Vater an.

 

Ich hatte hier das märchenhafte Kräutlein vom Koch ‚Zwergnase’ gefunden, das Kräutlein ‚Niesmitlust’, das er im Vollmondenschein schneiden musste und dessen Wuchsort und Aussehen nur er kannte.

Der Name ist verballhornt, es ist in Wahrheit natürlich das Kräutlein ‚Genieß mit Lust!’ – Mit diesem Spezialgewürz, das durch Konzentration angelockt wird (Vollmondnacht), schmeckt jede gesunde Nahrung genussvoll und erzeugt eine tierische, körperliche, gedankenleere, instinktive Lust beim Essen.

 

Ich hatte hier auch das ‚Elixier des Lebens’ gefunden, von dem die Mystiker des Abendlandes als der höchsten Errungenschaft eines langen und erfolgreichen Lebens als Alchemiker sich in Andeutungen ergingen. Es war das höchste und das am schwersten zu erzeugende Agens, vergleichbar mit dem Stein der Weisen.

 

Es gab nur sehr wenige Eingeweihte, die diese Tinktur zu ihrer Verfügung hatten. Das Geheimnis wurde streng bewahrt. Jeder Schüler musste es sich selbst erringen, und er bekam, wenn er Glück hatte, solche Aufgaben zum Üben, mit denen er in die Nähe der Synthese geführt wurde.

 

Als ich in alten Büchern darüber las, dachte ich, das sind Erzählungen ohne wahren Kern. Damit solle nur Neugier am großen Mysterium und am Weg der Alchemie erzeugt werden. Denn was sollte das Elixier bewirken? – Was denn nun? – Keine Antwort.

 

Jetzt wusste ich: Darum ging es. Dieser Zustand ist eine Position des Montagepunkts, die erreichbar ist. Sie bewusst und absichtlich erreichen zu können, diese Kunst, das ist die Synthese. – Oh, ja! – Das ist eine Errungenschaft, für die es sich lohnt, gelebt zu haben.

 

Nach dem Hinario saß ich im Vorraum, von der Arbeit erschöpft, und ruhte mich aus. Der Comandante kam herein und sprach mit einigen anderen Fardados und wandte mir dabei seinen Rücken zu. Ich sah ihn bewundernd an: Was für ein Mensch mit solchen Qualitäten! Er merkte offenbar, dass mein Blick auf ihm ruhte, denn er drehte sich rasch zu mir um und sah mir direkt in die Augen, vielleicht eine Sekunde lang. Und dann drehte er sich brüsk und unwirsch wieder von mir ab. Ein Schock durchfuhr mich. Ich hatte etwas falsch gemacht.

 

Und dann fiel es mir wieder ein. Es geht nicht darum, andere Menschen zu bewundern und anzuhimmeln mit offenstehendem Mund und nach oben verdrehten, glasigen Augen und dem leisen Laut ‚O’, gesprochen wie das englische ‚awe’, ‚Ehrfurcht’.

 

Nein, das ist es nicht. Es geht darum, von innen heraus im eigenen Glück zu strahlen und dieses Glück um sich herum zu verbreiten, so dass die eigene Umgebung von der gleichen Lebensfreude erfüllt ist. Das war die Lektion, die er mir erteilt hatte. Und ich hatte ihm gezeigt, dass ich nichts davon begriffen hatte. Und er hatte mir gezeigt, dass ich nichts davon begriffen hatte. – Danke! –

 

 

15.1  Mein erstes Hino

 

Einige Jahre danach war ich allein in der Natur und überlegte, wie es wohl sei, ein Hino zu empfangen. Ich drängte mich nicht dazu, Hinos zu empfangen. Ich bin ziemlich unmusikalisch. Mich freut es, dass andere sie empfangen. Mir geht es mehr um das Verstehen selbst. Und deswegen wollte ich gern wissen, wie sich das wohl anfühlt: Wie ist der Bewusstseinszustand, in dem ich dafür offen bin, ein Hino zu empfangen?

 

Ich habe mit verschiedenen Menschen gesprochen, die Hinos empfangen haben. Die Hinos kommen offenbar in unterschiedlichen Situationen. Manchmal merkt der Empfänger, dass ein ‚Anorganisches Wesen’, ein ‚Engel’, ein ‚Geist’, ein ‚Hohes Wesen’ im Raum ist, und das Hino strahlt von ihm aus und ist auf einmal vollständig da. Manchmal wird erst eine Melodie und später der Text einer Strophe, danach noch die anderen Strophen übermittelt im Laufe von Wochen oder sogar Monaten.

 

Manchmal werden Hinos in der Concentração empfangen, manchmal nach einem Ritual irgendwann in einem ruhigen Moment, z.B. beim stillen Sitzen in der Küche. Eine Fardada hat es mir so erklärt: Man merkt, irgendetwas ist anders, gleich kommt etwas. Dann kommt eine Melodie verbunden mit einem Text. Der kann sich ändern. Die Strophen gehen durcheinander. Sie verglich diesen Zustand mit dem, dass Wasser in einen Trichter geschüttet wird: Es bilden sich Wirbel. Sie entstehen, weil eine vorher unbegrenzte Form in ein Gehirn transformiert wird. Im Laufe von größenordnungsmäßig einer Stunde vergehen diese Wirbel. Es klärt sich. Dann ist die Zeit gekommen, sich alles aufzuschreiben, um es nicht wieder zu vergessen.

 

Eine andere Fardada erzählte, dass sie beim Autofahren in großem Stress ein riskantes Manöver machte, weil sie in dem Moment intuitiv wusste, dass sie nur so die Situation lösen konnte. Sie vertraute ihrer Intuition, hatte Erfolg damit und in den Minuten danach mit ihrem Blut in hoher Konzentration an Adrenalin empfing sie ein Hino über Vertrauen.

 

Ich lag auf dem Rücken und schaute durch die Blätter der Bäume in die strahlende Sonne und überlegte: Zuerst müsste ich wissen, was für ein Thema das Hino haben sollte. Was möchte ich gern für ein Thema haben? Was ist mir das Wichtigste? -

Aber es müsste zusätzlich ein Thema sein, was nicht so oft schon besungen wurde. Denn das wäre nur eine Wiederholung, zwar schön und gut, aber ich möchte Neues.

 

„Die Lebensfreude“ durchschoss es mich plötzlich. Sofort erfüllte sie mich: Ja! – Das ist das Thema. Darüber möchte ich gern ein Hino haben! Vor Lebensfreude erhob ich mich und starrte stehend weiter durch die Blätter in die Sonne.

 

Nach einiger Zeit erfüllten mich zuerst ganz leise und dann in meinem Bewusstsein immer lauter werdend vier Töne, die sich immer wiederholten. Dann summte ich sie mit:

“Hmm hmm hmm hmm

Hmm hmm hmm hmm“ -

„Viva (a) Santa Alegría!“ rief es voller Freude aus mir heraus.

Das ‚(a)’ (in Klammern) bedeutet, dass es nicht mit ausgesprochen wird, aber grammatikalisch dorthin gehört. Es sind also acht Silben in diesem Ausruf. Den Akzent habe ich über das ‚í’ gemacht, um die Betonung zu markieren, grammatisch gehört er nicht dahin.

 

Und diese kurze Sequenz wiederholte sich mit einer leichten Veränderung. Die Veränderung war: Beim ersten Alegr-í-a werden das ‚í’ und das ‚a’ lang gesungen, beim zweiten Mal kurz.

Und beide Variationen zusammen, das merkte ich, waren eine Strophe, deren erster Teil offen war, der dann bei der Wiederholung geschlossen wurde.

Und ich summte voller Glück mein erstes Hino immer wieder vor mich hin.

 

Aber was kommt statt der Hmm’s als Text dahin?

Was ist als Aussage dazu noch wichtig?

Ich überlegte und überlegte, natürlich immer wieder dazwischen in Gedankenstille. Ich versuchte verschiedene brasilianische Texte. Alles wirkte nicht richtig, wie selber zusammengebröselt, wie ‚gewollt’.

 

Nach etwa einer halben Stunde begriff ich es endlich: Das war’s!

Da gehört nichts weiter dazu. Das ist es. Es ist so ungewöhnlich, so kurz und so ohne Aussage. Dazu ist noch zwischen den ruhigen „Hmm’s“ und „Viva a Santa Alegría“ ein solcher Tempowechsel, der in Hinos nicht normal ist: Die Struktur des Hinos selbst ist die Anrufung der Lebensfreude. Die Musik und der Text – so sind sie richtig.

 

Jetzt wusste ich von innen heraus, wie es ist, ein Hino zu empfangen: „Danke!“

 

Ich dachte natürlich, das vergesse ich nicht mehr. Aber am nächsten Tag konnte ich mich noch erinnern, ein Hino über die Lebensfreude empfangen zu haben. Ich erinnerte sogar noch den Text vollständig(!), aber die Melodie war weg. Ich probierte dies und das, aber nichts passte. Was für eine Schande: Ein solches Geschenk zu vergessen! - Das durfte nicht sein.

 

Nach vielen Wochen hatte ich es wieder vollständig. Dann sang ich es auf eine MiniDisc auf. So, da ist es. - Jetzt hat es sich materialisiert. Aber wenn ich zufällig einmal wieder daran denke, dann habe ich oft Mühe, die Melodie wiederzufinden.

 

Ich habe es noch nie auf einem Hinario vorgetragen.

Neue Hinos werden der Gemeinschaft häufig so vorgestellt. Der Empfänger mit einer kleinen Gruppe, die das Hino eingeübt hat, stellt sich an die Westseite des Tisches und trägt es vor, so dass alle, die dabei sind, es kennen lernen, oder der Empfänger singt es allein.

 

Jetzt schreibe ich es als Text zum ersten Mal ‚korrekt’, so wie Hinos geschrieben werden, schriftlich hin, viele Jahre später.

Der senkrechte Strich heißt Wiederholung. Die sechs Zeilen werden also einmal durchgesungen und dann noch einmal wiederholt. Die Melodie beim ersten Viva ist anders als beim zweiten. Deshalb wird der gleiche Text zweimal hintereinander geschrieben. Es wird also insgesamt viermal „Viva“ gesungen. Die Melodie ist im Vier-Viertel-Takt.

 

Häufig werden Hinos einer Person gewidmet. Der Name wird in Klammern unter den Titel gesetzt.

 

Die Melodie hinzuschreiben ist unüblich. Man lernt sie einfach durch nachsingen.

Es sieht nach nichts aus. Aber für mich steckt viel in diesem Hino drin:

‚Que não me esquece’:

 

1.  Viva a Santa Alegria (4/4)

     (Verissimo)

 

│Hmm hmm hmm hmm

Hmm hmm hmm hmm

Viva a Santa Alegria

Hmm hmm hmm hmm

Hmm hmm hmm hmm

Viva a Santa Alegria

 

 

15.2  Die Wiederholung

 

Im Jahre 2004 war ich in Amsterdam, wo zwei weibliche Comandantes zu Besuch waren, die beide zum Zweig des Umbanda in CEFLURIS gehören.

 

Umbanda ist ein Zweig einer uralten afrikanischen Linie, die mit den Negersklaven nach Brasilien kam und der sich dort entwickelt hat und heute in voller Blüte steht.

 

Santo Daime ist keine Sekte, sondern eine geöffnete Weisheitslinie. Deshalb heißt ‚CEFLURIS’ auch das ‚Centro Ecletico de Fluente Luz Universal Raimundo Irineu Serra’, ‚das Eklektische Zentrum des Universellen Fließenden Lichts, Raimundo Irineu Serra’. CEFLURIS ist die Linie von Santo Daime, die Padrinho Sebastião als Schüler von Irineu begründet hat. In ihr können verschiedene Traditionslinien, die mit Daime harmonisieren, ihre eigenen Rituale abhalten. Eklektisch oder ‚auswählend’ deutet an, dass es in diesem Sinne keine festen dogmatischen Sperren gibt, die eine Sekte kennzeichnen. Umbanda ist eine dieser Linien, die sich in einem ihrer Zweige mit Daime verbunden hat.

 

In Mapiá war ich bei einer morgendlichen Zeremonie ‚Madrugada’ als Zuschauer dabei, die vom Daime-Zweig des Umbanda abgehalten wurde mit einer der beiden Comandantes. Diese Linie des Umbanda nennt sich ‚Umbandaime’. Und was ich dort erlebte, war so gewaltig, dass ich es nur als Zuschauer – dabei selbst aber auch unter Daime - fast nicht ertragen konnte. Die wirbelnden Tänze und die sichtbar schnellen und großen Bewegungen des Montagepunkts der weiblichen Tänzer, das war einfach zu viel für mich.

In Holland 9 Jahre später, hatte ich eine weitere Einführung in die hoch effektiven Methoden von Umbandaime, aber das nur nebenbei.

 

Bei einer Cura, die von dem weiblichen Comandante geleitet wurde, saß ich in der zweiten Reihe. Plötzlich merke ich, wie die Santa Alegria mich erfasst, blitzschnell war ich wieder in dem Zustand. Ich dachte zwei Dinge gleichzeitig: ‚Oh, wie schön!’ – und ‚Oh, wie lange habe ich das schon nicht mehr erlebt!’ – Ich hatte im Laufe des täglichen Lebens so viel zu tun gehabt. Ich hatte einfach wieder vergessen, dass es diesen Zustand überhaupt gibt. Und wenn er vergessen ist – melden tut er sich nicht von allein. Das ist Aufgabe jedes Menschen, ihn zu rufen und diesen Zustand zu pflegen.

 

Ich hatte sogar im Laufe der Jahre mehr und mehr gelernt, welche Kriterien der Zustand hat. Wenn ich die Kriterien kenne, dann brauche ich nur meine Aufmerksamkeit auf diese Erkennungsmerkmale zu richten, und dann stellt sich die Lebensfreude ein, denn mit diesem Hilfsmittel der Kriterien kann ich mit meiner Aufmerksamkeit meine Absicht auf sie ausrichten und dann kommt die Santa Alegria. Ich rufe sie damit.

 

Ich schaute auf. Ich konnte die Comandante von meinem Platz aus nicht sehen. Sie saß an der Stirnseite des Tisches etwa fünf Meter von mir entfernt. Aber von dem freien Raum etwa 40 Zentimeter vor ihrem Gesicht, den ich sehen konnte, strahlte mir die Lebensfreude förmlich entgegen.

 

Ich seufzte tief auf und atmete sie mit vollen Zügen ein: Cura – Die Heilung!

Wie hatte ich die Lebensfreude nötig gehabt! Ich sog sie ein wie ein Verdurstender.

 

Beim nächsten Hino merke ich plötzlich wieder, wie mich die Lebensfreude erfasst. Ich hatte sie schon wieder vergessen! Wie konnte das passieren? – Jetzt sollte mir das nicht noch einmal geschehen! Ich konzentrierte mich auf ihre Kriterien und unterstützte so, dass sie bei mir verweilte.

 

Aber schon beim nächsten Hino wieder das gleiche.

Und beim nächsten Hino wieder.

Wie gering ist doch meine Konzentrationsfähigkeit, wenn ich das Schönste, was es überhaupt im Leben gibt, innerhalb von nur drei Minuten wieder völlig vergesse.

 

So half mir diese Comandante etwa zwanzigmal ohne nachzulassen, mich an diesen Zustand zu erinnern, das heißt, ihn wieder zu erleben.

 

Seit diesem Erlebnis ist es schon häufiger, dass ich mir morgens im Spiegel in die Augen schaue und dann darin dieses eigenartige strahlende Leuchten erblicke, das zur Lebensfreude gehört.

 

Die Erkennungsmerkmale oder Kriterien, die ich kenne, kann ich zwar benutzen, sie sträuben sich aber, sich durch die Sprache oder auch sonst irgendwie übermitteln zu lassen. Dafür gebe ich jetzt ein Beispiel:

 

Ich richte meine Aufmerksamkeit auf die Außenseite der unteren Lider meiner Augen und auf den Punkt an meinen Augenbrauen, an dem ihre Krümmung am stärksten ist.

Zwischen diesen beiden Punkten ziehe ich eine Verbindungslinie. Wo diese Linie das obere Augenlid in dessen Mitte kreuzt, dort tief im Innern des Auges sitzt ein Punkt. Von diesem Punkt strahlt die Lebensfreude aus, wenn ich sie habe – zumindest bei mir.

 

Ein anderes Beispiel: Am Augenhintergrund, an der runden Hohlwölbung, in der meine Augäpfel sich bewegen, etwa 1 cm nach außen und 1 cm nach unten von der optischen Achse gibt es einen besonderen Punkt. Wenn ich mich auf ihn konzentriere, dann rufe ich damit die Lebensfreude. Dieser Punkt ist in beiden Augen vorhanden.

Und zumindest mir hilft diese Beschreibung, mich wieder daran zu erinnern:

„Viva a Santa Alegria!“

 

Viele Menschen brauchen Hilfsmittel aus der Außenwelt, um Spaß und Unterhaltung und Lachen zu haben wie z. B. einen Entertainer, Musik, Action und Comik. Und trotzdem haben sie nur Spaß, der oberflächlich ist und der danach schnell verpufft ist.

Ich kann die Santa Alegria dringend empfehlen. Sie ist jede Anstrengung wert!

 

Eine Übung zum Aktivieren dieser zwei Punkte der Lebensfreude:

Ich lege die locker geschlossenen Fäuste beider Hände mit ihren kleinen Fingern aneinander.

Ich halte die Zeigefinger nur leicht gekrümmt.

Ich führe die Zeigefingerkuppen etwa zwei Zentimeter vor die Augäpfel und

bewege sie etwa zweimal pro Sekunde leicht von oben nach unten und zurück hin und her.

Dabei gaffen die Augen geradeaus ins Unendliche.

Die Aufmerksamkeit liegt nicht im Sehen, sondern im Fühlen im Augenhintergrund.

In den zwei Punkten dort, die mit den Fingern ‚geistig massiert’ werden, entsteht ein merkwürdig intensives Gefühl, eine Art von sehr schneller Vibration.

Durch häufiges Wiederholen dieser Übung ist es leichter, die Lebensfreude zu rufen.